Wenn ich doch bloß Krebs hätte

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Julianne Moore spielt die an Alzheimer erkrankte Universitätsprofessorin Alice. Für ihre Leistung gewann Moore den Oscar als beste weibliche Hauptdarstellerin. © BSM Studio

Die Schauspielerin Julianne Moore beweist im Film „Still Alice – Mein Leben ohne Gestern“, dass eine Alice mit Alzheimer immer noch Alice ist.

„Du musst in einem Film über den Holocaust mitspielen oder auf der Leinwand mit einer schweren Krankheit kämpfen, dann bekommst Du den Oscar.“ – Diesen Rat haben dieses Jahr die Schauspieler Eddie Redmayne und Julianne Moore befolgt. Es hat sich gelohnt, denn beide gewannen den Oscar in der Kategorie Bester HauptdarstellerIn. Redmayne bekam für seine Rolle im Biopic Die Entdeckung der Unendlichkeit. Dort spielt er den berühmten Wissenschaftler Stephen Hawking, der an der degenerativen Nervenkrankheit ALS erkrankt. Moore wurde für ihre Darstellung einer an Alzheimer leidenden Universitätsprofessorin in dem Drama Still Alice ausgezeichnet.

Der amerikanische Traum wird zum Albtraum

Beide Schauspieler standen vor einer recht ähnlichen Aufgabe. Sie sollten einen Menschen darstellen, der sich fast vollständig durch seinen Intellekt definiert und vom eigenen Körper im Stich gelassen wird. Die angesehene Linguistikprofessorin der New Yorker Columbia Universität Alice (Juliane Moore) erleidet dabei möglicherweise ein grausameres Schicksal als Hawking. Im Gegensatz zu diesem ist es bei Alice nämlich das Gehirn, das versagt. Dabei hat die 51-Jährige Frau zu Beginn des Films alles, was man sich wünschen kann: eine glänzende akademische Karriere, einen liebevollen Ehemann und drei Kinder, von denen sich nur eines gegen ein Hochschulstudium entschieden hat.

Dieser amerikanische Vorzeigetraum wird nicht von einen Tag auf den anderen zum Albtraum. Es beginnt alles ganz unauffällig. Alice kann sich während ihrer Vorlesungen nicht mehr an die einfachsten Worte erinnern oder ihr entfällt eine wichtige Verabredung zum Abendessen. Wirklich beunruhigt ist sie erst, als sie beim Joggen auf gewohnter Route die Orientierung verliert und den Heimweg nicht mehr findet. Die Diagnose nach einer Magnetresonanztomographie ist für Alices niedriges Alter ungewöhnlich, doch korrekt und unumstößlich. Es ist Alzheimer in einer seltenen, erblichen Form, die schnell voran schreitet. Alice und ihr unmittelbares Umfeld müssen sich bald damit abfinden, dass sich ihr Leben nicht mehr um ihr Rednerpult oder ein neues Lehrbuch drehen wird. Das wirft auch die Frage auf, was einen Menschen, neben seinen Erinnerungen und Fähigkeiten, ausmacht.

Die Beständigkeit eines wachen Verstands

„Wir müssen lernen, das Wertvollste zu verlieren, was wir haben. Die Erinnerungen. Die Menschen nehmen uns nicht ernst, wir sind lächerlich. Minderwertig. Dabei kämpfen wir ständig darum, irgendwo hin zu gehören,“ liest Alice während eines Vortrags etwas holprig von einem Papier ab. Dabei unterstreicht sie die einzelnen Sätze, damit sie weiß, dass sie sie schon vorgelesen hat. Juliane Moore verleiht der Figur eine ungewöhnliche Überzeugungskraft und trägt mit ihrer Leistung den gesamten Film. Als sich die ersten Anzeichen der Krankheit bemerkbar machen, ist sie immer noch fröhlich und liebenswürdig, nur leicht verunsichert. Als sie erfährt, dass auch ihre Kinder an der Krankheit leiden könnten und sie die Toilette im eigenen Haus nicht mehr findet, sehen wir in ihren Augen die pure Verzweiflung.

Am Ende wird diese von einer dumpfen Apathie abgelöst, als bereits über ihren Kopf hinweg über ihr Schicksal entschieden wird. Der 53-Jährigen Juliane Moore gelingt es hier überzeugend die einzelnen Krankheitsstadien zu zeigen. In ihrem Gesicht wird der Prozess des Nachdenkens selbst für uns sichtbar. In ihren Augen spiegelt sich der Schmerz eines Menschen wider, der sich sein gesamtes Leben verlassen hat auf die Beständigkeit seines wachen Verstandes, der ihn nun verlässt. Man könnte sagen, aus Alice entweicht das Leben. Sie sieht die Worte und Erinnerungen vor sich, aber sie kann sie nicht fassen.

Die starke Leistung von Julianne Moore lässt den restlichen Film etwas schwach aussehen, aber das wäre selbst bei weniger schauspielerischem Engagement nicht anders. Still Alice ist ein eher konventionelles, formal nicht allzu gewagtes, mit dezenter Klaviermusik untermaltes und vorhersehbares Drama. Außer Moore kann nur Kristen Stewart ihrer Rolle der Tochter Lydia glaubhaft Gestalt geben. Sie verkörpert ein Mädchen, das als Schauspielschülerin ein wenig darunter leidet, aus einem Haus voller Hochschulabsolventen zu kommen. Damit knüpft sie an ihre Rolle im Drama Die Wolken von Sils Maria an und verabschiedet sich endgültig von der hölzernen Belle der Vampir-Saga Twilight. Etwas Ähnliches kann man von Alec Baldwin nicht behaupten. Als Alices Ehemann wirkt er nicht gerade souverän, so als würde er irgendwo eine Geliebte verstecken. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, er kümmert sich weiter fürsorglich um Alice.

Sorry, ich habe Alzheimer

So zeigt Still Alice nur eine reiche, gut situierte Frau, die mit der Krankheit kämpft und sich eine Pflegerin leisten kann. Eine Pflegeeinrichtung besucht sie nur um festzustellen, dass dort auch der erste Mensch lebt, der im All einen Satelliten installiert hat. Einen interessanteren sozialen Aspekt der Krankheit, an der 35 Millionen Menschen auf der ganzen Welt leiden, bietet der Film nicht.

Im Endergebnis ist Still Alice also dank der hervorragenden Julianne Moore hauptsächlich ein Appell, mehr über die Krankheit zu sprechen. „Sorry, ich habe Alzheimer. Ich wünschte, ich hätte Krebs. Dann würde ich mich wenigstens nicht schämen. Menschen mit Krebs organisieren Demos, sammeln Spendengelder und fühlen sich nicht wie soziale...Ich kann mich nicht an das Wort erinnern,“ sagt Alice, als sie nachts mit dem irrationalen Bedürfnis erwacht, unbedingt ihr Telefon finden zu müssen.

Als Julianne Moore den Oscar von Matthew McConaughey in Empfang nahm, knüpfte sie daran an. „Ich bin begeistert über unseren Versuch, die Krankheit Alzheimer etwas zu beleuchten. Das tolle an Filmen ist das Gefühl, dass sich Andere für einen interessieren und man nicht alleine ist. Menschen mit Alzheimer verdienen Aufmerksamkeit. Das könnte helfen, ein Heilmittel zu finden.“

Der Film Still Alice - Mein Leben ohne Gestern ist ab dem 5.März 2015 in fast allen deutschen Kinos zu sehen.

Übersetzung: Hanna Sedláček

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2015

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