Größenwahn der Generationen

Foto: Luckyprof CC BY-SA 3.0
Sechs Stunden dauert es, um von Europa nach New York zu fliegen, eine E-Mail schafft es sogar in weniger als zwei Sekunden. Nie zuvor ging Kommunikation so schnell; dass es irgendwann noch schneller gehen könnte, ist schier unvorstellbar.

Die meisten dürften dasselbe schon vor Jahren gedacht haben, als die E-Mail ihr Ziel zwar genauso schnell erreichte, der Adressat aber vor seinem Computer sitzen musste, um sie zu empfangen – und nicht wie heute nur sein Smartphone in der Tasche brauchte, um in Sekundenschnelle für jedermann erreichbar zu sein. Innerhalb weniger Jahre scheint sich die Kommunikation zum Totalen gewandelt zu haben. Doch wer sich von diesem Wandel überfordert fühlt, vergisst, dass es jeder Generation so geht. Technik entwickelt sich ständig weiter – und für die Zeitgenossen jeder Epoche sieht es so aus, als könnte es keinen größeren Fortschritt mehr geben als den, den sie gerade erlebt. Wer 100 Jahre zurückblickt, stellt fest, wie falsch das ist. Drei Beispiele.

Medien

Foto (Ausschnitt): André Zehetbauer CC BY-SA 2.0

Kommunikation in Echtzeit, Foto (Ausschnitt): André Zehetbauer CC BY-SA 2.0

Wer sie miterlebt hat, empfand die Einführung von Chats in den Alltag als revolutionär. Kommunizieren in Echtzeit – eine Sensation! Oder? Die Wahrheit ist natürlich: Nein, denn Kommunizieren in Echtzeit konnte man schon vor mehr als 100 Jahren. Als das Telefon erfunden wurde, beäugten viele das Gerät, das man damals noch mit Hörern auf beiden Ohren benutzen musste, als futuristisches Objekt ohne unmittelbaren Nutzen. Die ersten, die sich für das Telefonieren begeistern konnten, waren die Jugendlichen. Der Philosoph Walter Benjamin brachte die Skepsis der älteren Generation gegenüber dem neuen Medium auf den Punkt: „Der Laut, mit dem er zwischen zwei und vier, wenn wieder ein Schulfreund mich zu sprechen wünschte, anschlug, war ein Alarmsignal, das nicht allein die Mittagsruhe meiner Eltern, sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete.“ Die Gefährdung, die vom Telefon für die Gesellschaft ausging, war ähnlich gering wie diejenige von Skype oder MSN. Nur die Skepsis ist seither nicht verflogen.

Globalisierung

Foto (Ausschnitt): Luckyprof CC BY-SA 3.0

Büste von Stefan Zweig auf dem Kapuzinerberg in Salzburg, Foto (Ausschnitt): Luckyprof CC BY-SA 3.0

Das 21. Jahrhundert gilt als das Zeitalter der Globalisierung. Das sagen zumindest Politiker, schreiben Zeitungen und denkt man ja auch irgendwie selbst. In die Geschichtsbücher wird unsere Zeit allerdings nicht als das „Zeitalter der Globalisierung“ eingehen – denn das gibt es schon. Globalisierung ist etwas, das mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert begonnen hat und sich seither immer weiter intensiviert. Am Beginn der Entwicklung stand die Erfindung der Eisenbahn, die den Transport von Rohstoffen über Landesgrenzen hinweg ermöglichte, dann kamen Flugzeuge und Telefone, die es den Menschen erlaubten, auch privat internationale Kontakte zu pflegen. Heute ist Facebook das vielleicht markanteste Indiz der Globalisierung. Für seine Kritiker ist es gleichzeitig ein Symbol für die angebliche Amerikanisierung der Welt.

Dabei ist selbst die Angst, zu einem kulturellen Ableger der USA zu werden, nichts Neues. Schon in den 20er Jahren gab es in Mitteleuropa einen gewaltigen Anti-Amerikanismus. Amerika war für viele nicht die Wiege der modernen Demokratie, sondern eine Diktatur des Geschmacks. Musik, Mode und der aufstrebende amerikanische Film schienen das europäische Kulturgut zu überschwemmen und zu „monotonisieren“, wie Stefan Zweig 1925 schrieb. Die Kritik an dem, was aus Amerika kam, glich aufs Detail den heutigen Klischees über die USA. Vor allem für oberflächlich hielt man Kunst und Kultur vom anderen Ende des Atlantiks im Vergleich mit den tiefsinnigen eigenen Kulturgütern – und übersah dabei gerne, dass so gut wie alle amerikanischen Kulturschaffenden europäische Auswanderer waren.

Sprache

Foto (Ausschnitt): hdaniel, CC BY-SA 2.0

ROFL, LOL, WTF...?, Foto (Ausschnitt): hdaniel, CC BY-SA 2.0

Wer die Bestseller-Reihe „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ des Spiegel-Redakteurs Bastian Sick gelesen hat, will nach der Lektüre am liebsten nie wieder ein Smiley in eine E-Mail setzen. Denn nach Sicks Logik verursachen Emoticons, ebenso wie Abkürzungen von Gefühlsausdrücken (LOL) den Niedergang der gepflegten Sprache. Am Niedergang der Sprache will natürlich keiner Schuld tragen. Allerdings ist dieser schon so oft prophezeit worden, dass es größenwahnsinnig wäre zu glauben, dass es ausgerechnet unserer Generation gelingen könnte, ein lange existierendes und sich ständig entwickelndes Kommunikationssystem zu zerstören. Als 1923 in Deutschland die ersten Radiostationen auf Sendung gingen, sahen viele Zeitungsjournalisten und -leser das Ende des Printjournalismus gekommen. Mehr noch: Man sah sogar das Ende des ganzen Satzes nahen. Im Radio sprachen Journalisten kürzere Sätze, weil das für den Zuhörer verständlicher und außerdem zeitsparender war. Nicht anders ist es heute im Online-Journalismus oder im Alltag beim SMS-Schreiben. Wozu einen ausgefeilten Text schreiben, wenn jeder versteht, was man meint mit „Sry, hab keine Zeit, melde mich vllt am Mo, LG“?

Grund zur Panik besteht deshalb noch lange nicht. Der Literaturnobelpreis wird immer noch verliehen, und seine Preisträger schreiben allzu oft keine kürzeren Sätze als Thomas Mann.


Copyright: Goethe-Institut Prag
Oktober 2012

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