Die (Wieder)Entdeckung der Langsamkeit

Foto: © H.-P. Haack CC BY 3.0

Wie aktuell ist Adalbert Stifters „Der Nachsommer“?

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Die Originalausgabe von 1857 erschien wegen der Länge des Textes in drei Bänden, Foto: © H.-P. Haack CC BY 3.0

Zugegeben: Adalbert Stifters Erzählung Der Nachsommer ist nicht unbedingt die Art Lektüre, die man als mitreißend bezeichnen kann. Aber das erwartet man auch kaum von einem Bildungsroman aus dem Jahr 1857, der als eines der herausragenden Werke des Biedermeiers gehandelt wird.

Als ich das Buch kürzlich auf einer langen Zugfahrt zur Hand nahm, rechnete ich daher auch eher mit einem intellektuellen Erguss als einer locker-mitreißenden Schreibe, die sechs Stunden Fahrzeit und sechshundert Kilometer wie im Fluge vorbeigehen lassen würde – und bereits nach wenigen Seiten sah ich diese Erwartung bestätigt. Meine Zuglektüre hatte vor allem einen Effekt: Ich musste mich bei jedem Umsteigen zwingen, nicht schnurstraks zum nächstbesten Kiosk zu laufen, und mir das an Lesestoff zu kaufen, was ich unter echter Zerstreuung verstehe. Besserung war nicht in Sicht: Auch nach mehr als hundert Seiten plätscherte Stifters Handlung träge vor sich hin – sofern von einer Handlung überhaupt die Rede sein kann.

Die Story

Die Geschichte lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Heinrich Drehndorf, ein finanziell unabhängiger junger Schöngeist flüchtet vor einem Gewitter auf einen abgelegenen Berghof und freundet sich mit seinem Gastgeber, dem alten Gustav, an. Von da an verlebt er als immer wieder gern gesehener Gast mehrere Sommer in Folge auf diesem Hof, und während er sich in scheinbar endlosen Monologen über Kunst und Naturbetrachtungen ergeht, verliebt er sich eher so nebenbei in die hübsche Natalie. Nach reiflicher Überlegung (die mehrere Sommer in Anspruch nimmt) beschließen die beiden, zu heiraten. Zum Ende erzählt Gustav dann seine eigene Lebensgeschichte, die so ziemlich das genaue Gegenteil dessen ist, was Heinrich erlebt: Gustav musste seine Zeit nämlich für das Verdienen des Lebensunterhaltes aufwenden, konnte daher erst im Alter seinen Neigungen folgen und die Liebe seines Lebens verlor er (unter anderem), weil er es zu eilig hatte.

All das dehnt Stifter auf fast 800 Seiten aus (die Originalausgabe erschien in drei Bänden) und lässt dabei Heinrich oder seinen Gastfreund mitunter 30 Seiten am Stück ausschließlich über Rosenzucht, Vogelfütterung oder die äußere Beschaffenheit einer Marmorstatue philosophieren.

Langweilig, langatmig, entschleunigt – oder was?

Ist Stifters Roman Der Nachsommer demnach nichts weiter als eine langweilige Aneinanderreihung von Naturbeschreibungen und hören sich die Charaktere am allerliebsten selbst reden – ohne Rücksicht auf Verluste, Gesprächspartner oder gar den Leser?

Auf den ersten Blick mag das so scheinen. Egal, was Stifters Figuren tun, sie tun es mehr als bedächtig und ohne jede Leidenschaft, ganz im Gegensatz zu Goethes Werther, der seinerzeit entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt durch die Handlung stürmte und drängte. Werther mag auf seine eigene Art ebenfalls anstrengend sein, aber wenigstens ist er immer mit vollem Herzblut dabei. Heinrich und Natalie hingegen wirken bereits wie ein altes Ehepaar, bevor sie überhaupt geheiratet haben.

Ein Zitat aus dem „Nachsommer“ mit Impressionen der Landschaft, in der der Roman spielt.

Altbacken – oder aktuell?

Kann man den Nachsommer also getrost in die Mottenkiste verbannen, als ein Relikt des Biedermeiers, das nicht mehr in die heutige Zeit passt? Nicht unbedingt. Über das Buch und den Stil mag man geteilter Meinung sein, doch Stifters Ideen sind durchaus noch ein paar Überlegungen wert: Gerade in der heutigen Zeit, da Effizienz alles ist, jeder Urlaub als „Sprachreise“ deklariert wird, und sich kaum noch jemand traut, sich selbst auf dem Weg zur Berufsfindung ein wenig auszuprobieren, denn das könnte ja wie ein Knick im Lebenslauf aussehen.

Natürlich hat Stifters Held einen klaren Vorteil im Vergleich zum Otto Normalbürger: Er muss für sein Geld nicht arbeiten und kann seine Zeit nach Herzenslust nutzen, zum Beispiel indem er stundenlang in die Betrachtung einer vollkommenen Rosenblüte versinkt.

Andererseits entsteht nie der Eindruck, dass Heinrich seine Zeit sinnlos verschwendet. Er ist trotz Freizeit im Überfluss ständig mit irgendetwas beschäftigt und geht an alles voller Sorgfalt heran. Was er macht, das will er richtig machen, wenn er etwas anfängt, dann bringt er es auch zu Ende. Vor allem belässt er es nicht nur bei einem oberflächlichen Blick auf die Dinge und entdeckt dabei manches Detail, das ihm bei flüchtiger Betrachtung vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Damit erhält alles, was er tut, eine gewisse Tiefe und er selbst findet in dieser Langsamkeit eine innere Zufriedenheit.

Foto: Hans Weingartz CC-BY-SA-2.0-DE

Das Geburtsthaus von Adalbert Stufter im südböhmischen Horní Planá (Oberplan), Foto: Hans Weingartz CC-BY-SA-2.0-DE

In der Ruhe liegt die Kraft, oder: Langsamkeit ist Trumpf!

Nachdem ich mich auf diesen Gedanken erst mal eingelassen hatte, begann die Lektüre mir plötzlich Spaß zu machen. Spannender wurde die Geschichte davon zwar nicht und das Ende blieb vorhersehbar. Doch beim Nachsommer geht es eigentlich gar nicht um das Ende, und auch nicht um die Auflösung eines Spannungsbogens (denn das Buch hat schlichtweg keinen). Vielmehr sollte man die Geschichte unter dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ lesen. Bei mir persönlich stellte sich jedenfalls plötzlich so etwas wie Tiefenentspannung ein.

Als Lektüre zu empfehlen? – Jein. Aber…

Ob man wirklich die vollen 800 Seiten von Stifters Nachsommer lesen möchte, ist Geschmackssache. Meines Erachtens lohnt es sich aber durchaus, sich mit der Botschaft, dem Aufruf zur Langsamkeit, zu beschäftigen. Sich Zeit zu nehmen, die Zeit zu genießen und vielleicht mal ein bisschen das Tempo aus dem Alltag zu nehmen – das erscheint mir heutzutage noch genauso aktuell wie zu Stifters Zeiten.

Das Fazit

Entschleunigung – dieser Gedanke hat etwas für sich! Das wurde mir noch einmal besonders bewusst, als ich am Zielbahnhof ankam und in ein Taxi umstieg. Kurz darauf fand ich mich im hektischen Großstadtverkehr wieder, und das auch noch mitten in der Rush-Hour: Schnell, schnell, schnell ans Ziel, war die Prämisse, das Taxometer tickte und Zeit ist ja bekanntlich Geld!

Ich hatte plötzlich Lust, aus dem Wagen zu steigen, und gemütlich zu Fuß zu gehen. Aber leider saß mir schon wieder der nächste Termin im Nacken.

Janika Rehak

Copyright: Goethe-Institut Prag
Oktober 2012

    Adalbert Stifter

    (* 23. Oktober 1805 in Oberplan, heute Horní Planá, Böhmen; † 28. Januar 1868 in Linz)

    war ein österreichischer Schriftsteller, Maler und Pädagoge. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren des Biedermeiers. Stifters Werk gilt im Nachhinein als literarisches Beispiel einer entschleunigten Welt. In seinem Hauptwerk Der Nachsommer  ist ein bestimmendes Motiv, jede Bewegung zu verlangsamen und den Fluss der Zeit anzuhalten.

    Manche Kritiker warfen Stifter vor, seine Figuren seien eigentlich gar keine, sein Werk erschöpfe sich im Darstellen von Natur und Landschaft. Kritisiert wird außerdem sein weitschweifiger und langatmiger Stil.

    Stifters Leben und Wirken im Grenzbereich zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Kultur ließ Adalbert Stifter zum Namenspatron einiger verbindender Projekte werden, wie etwa des Adalbert-Stifter-Vereins in München, der den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Tschechien fördert.

    Quelle: wikipedia