Wunder, Digitaluhren und die Zeit dazwischen

Foto: Paul Mannix CC BY 2.0

Hilfe, mir ist langweilig!

„Langeweile ist dein Fehler“, Foto: AliceNWondrlnd CC BY 2.0

Die Zeit scheint still zu stehen, jede Sekunde dehnt sich ins Endlose und plötzlich fühlt man sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt, als man die Eltern während jeder Autofahrt alle zwei Minuten mit der Frage quälte: „Sind wir bald da…?“ Die Rede ist von Langeweile. Jeder kennt sie – aber was genau verbirgt sich hinter diesem Phänomen? Rita Molzberger, Mitarbeiterin am Institut für Bildungsphilosophie der Universität Köln, kennt sich aus.

Frau Molzberger, was genau ist Langeweile eigentlich?

Es gibt unterschiedliche Definitionen. Allen gemeinsam ist aber, dass das innere Zeitempfinden und die äußere Messzeit nicht übereinstimmen – genauer: dass die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Gepaart mit dem Empfinden einer radikalen Sinnlosigkeit, wird das als „unlustvoll“ erlebt.

Gibt es trotz dieser Unlust auch positive Aspekte der Langeweile? Hat sie vielleicht sogar einen biologischen Sinn?

Ob es einen biologischen Sinn gibt, weiß ich nicht. Sinn kann darin aber schon entdeckt werden: Manche Denker wie zum Beispiel Friedrich Nietzsche meinten, die Langeweile gehe dem kreativen Schaffen voran. Blaise Pascal hält sie für ein Spezifikum der menschlichen Existenz: Menschen hätten einen inneren Trieb zur Ruhe – aber wenn sie zur Ruhe kommen, werde ihnen ihre Sterblichkeit bewusst, was sehr unangenehm sei. So habe man dann auch den Trieb zur Zerstreuung und könne Langeweile nur schwer ertragen.

Wenn Nietzsche Recht hat, würde das bedeuten, künstlerisch veranlagte Menschen langweilen sich mehr als andere?

Diesen Zusammenhang stellt Nietzsche nicht direkt her. Künstler – und übrigens auch Heilige und Philosophen – sind laut Nietzsche vor allem deshalb besondere Menschen, weil sie ihrem so genannten Genius nicht ausweichen, das heißt, sich gewissermaßen trauen, das Schicksal zu bejahen und ihre Individualität radikal zu leben. Dementsprechend steht es zu vermuten, dass dieser Typus auch mit Langeweile anders umgeht.

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Rita Molzberger, Foto: privat

Gibt es denn auch verschiedene Formen oder Qualitäten von Langeweile?

Oh ja, es gibt viele verschiedene Formen und unterschiedliche Intensitäten. Von Martin Heidegger stammt die Unterscheidung in „Gelangweilt sein von etwas“, „Sich langweilen bei etwas“ und „Es ist einem langweilig“. Die erste Form ist situationsgebunden. Sie tritt zum Beispiel dann ein, wenn man eine halbe Stunde auf einen Zug warten muss. Die zweite Form ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zeit zu stehen scheint, obwohl man sich „in Unruhe“ befindet, beispielsweise bei einer Party, aber auch bei monotoner Arbeit. Die dritte ist eine maximal unpersönliche Stimmung: „Es“ ist einem langweilig, wie „es“ regnet. Hierfür lässt sich schwer ein Beispiel finden. Sie ähnelt, wenn man es klinisch-pathologisch fassen möchte, der Depression – aber sie ist gewiss nicht dasselbe!

Kindern reißt oft schnell der Geduldsfaden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lebensalter und Langeweile?

Während sich Kinder die Welt noch neu erschließen und gleichzeitig sozusagen ihr Werkzeugkasten zur Welterschließung noch nicht voll ist, sind sie schnell gelangweilt, wenn sie a) zu wenig Reize erfahren oder b) zu viele. Kinder lieben manche Monotonien, zum Beispiel lassen sie sich immer wieder das gleiche Buch vorlesen. Jugendliche empfinden eben solche Monotonien als fürchterliche Zumutung (Schulalltag), alte Menschen empfinden sie vielleicht als beruhigend. Zudem sind solche Empfindungen natürlich individuell unterschiedlich.

„Ich bin ja so gestresst!“ Hat der moderne und scheinbar ständig unter Stress stehende Mensch überhaupt noch die Zeit übrig, Langeweile zu entwickeln?

Erschreckenderweise ist Langeweile ja nicht unbedingt das Gegenteil von Stress, sondern kann sogar ein Symptom dessen sein. So spricht man seit einigen Jahren vom „Bore-out-Syndrom“, analog zum „Burn-out-Syndrom“. Langeweile entsteht ja, wie schon gesagt, auch bei monotonen Abläufen und/oder bei Überforderung. Was dem modernen Menschen eher fehlt, ist „leere Zeit“ im Sinne von nicht-zweckgebundener Zeit. Denn sogar das Entspannen ist ja oft zielgerichtet und dient dem Zweck, den Akku wieder aufzuladen.

Was ist denn der Unterschied zwischen Langeweile und Entspannung?

Beim Entspannen, oder „chillen“, wie man heute so schön sagt, wird das Zeit-Haben lustvoll erlebt, das ist der entscheidende Unterschied. Es gibt jedoch auch eine Gemeinsamkeit: Entspannung ist eigentlich nicht bewusst herstellbar. Genauso unmöglich ist es auch, sich auf Kommando zu langweilen. Andererseits würden viele Schüler das vielleicht anders sehen, wenn ein ungeliebtes Fach auf dem Stundenplan steht…

„Hilfe, mir ist langweilig! Und jetzt?!“ Gibt es wirksame Strategien gegen Langeweile?

Ja, die gibt es, und auch die entsprechende Ratgeberliteratur dazu. Aber diese Ratschläge antworten meist nur auf die „niederen“ Formen von Langeweile, und darauf könnte man eigentlich auch selber kommen: Wenn ich mich beim bereits angesprochenen Warten auf den Zug langweile, dann bietet es sich an, mir am, Bahnhofskiosk eine Zeitschrift zu holen. Wenn ich zu viel leere Freizeit habe, sollte ich mir ein Hobby zuzulegen. Viel schwieriger scheint es jedoch, den Umgang mit den tieferen Formen von Langeweile zu „erlernen“, wenn das denn überhaupt geht. Hier ist meines Erachtens Vorsicht geboten, wenn sich jemand als Experte aufspielt: Denn davon sind alle Menschen gleichermaßen betroffen, und es kann keine immergültige Antwort geben.

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Digital? Ein Wunder? Oder war hier jemandem langweilig? Foto: Paul Mannix CC BY 2.0

Was machen Sie denn, wenn Ihnen langweilig wird?

Ironischerweise kenne ich das Gefühl der Langeweile von mir selbst kaum. Vielleicht interessiert mich das Thema deshalb so sehr.

Von dem Schriftsteller Terry Pratchett stammt der Satz: „Ihr Menschen seid schon seltsame Wesen. In einem Universum, das so voller Wunder ist, habt ihr es dennoch geschafft, die Langeweile zu erfinden!“ Fällt Ihnen zu diesem Zitat spontan etwas ein?

Mir fällt ein passendes Zitat von Douglas Adams ein: „Die Menschen werden geboren, die Menschen sterben, und die Zeit dazwischen verbringen sie mit dem Tragen von Digitaluhren.“ Pratchett und Adams scheinen gleichermaßen etwas enttäuscht von der Menschheit zu sein, aber während Pratchett davon ausgeht, dass wir die Langeweile „erfunden“ haben, würde ich eher sagen, die Langeweile betrifft uns in unserem Menschsein. Damit kann man aber sehr viel kreativer umgehen, als – um in der Metapher zu bleiben – Digitaluhren zu tragen und auf das Ende zu warten. Die Langeweile kann auch ein Aufruf sein, verwegen und etwas keck die eigenen Kräfte wie Vernunft, Phantasie und Schaffenskraft zu nutzen. Dass wir seltsame Wesen sind, muss ja nichts Schlechtes sein.

Das Interview führte Janika Rehak

Copyright: Goethe-Institut Prag
Oktober 2012