Essays

Kashmirische Dichtung

Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes

Shafi Shauq plädiert dafür, das vielgestaltige Wesen der zeitgenössischen kashmirischen Dichtung zu würdigen, das sich aus Traditionsbezug wie aus Widerstreit ausgebildet hat.

Die kaschmirische Dichtung der vergangenen fünfundzwanzig Jahre kann man aus mehr als einem Grund zeitgenössisch nennen: 1.) Weil sie in einem von beispielloser politischer Gewalt geprägten Milieu entstand, 2) wegen der Angst vor Nachwirkungen, 3) aufgrund der Gleichzeitigkeit mehrerer Stimmen, und 4) weil sie sich von Bemühungen der Modernisten abwendet, die Sprache mit persönlicher Bedeutung anzufüllen.

Die Dichtung aus diesem Umfeld ist so reichhaltig und die Zahl ihrer Dichter so vielzählig, dass es außerordentlich schwer fällt, eine Auswahl repräsentativer Werke zu treffen. Erst mit dem zeitlichen Abstand von mindestens einem Jahrzehnt ist ein unbefangenes Urteil über die Dichtung eines Zeitraums möglich. Dichter der vorherigen Generation wie Amin Kamil (1924–2014), Ghulam Nabi Firaq (*1922), Arjan Dev Majboor (1923–2010), Rahman Rahi (*1925), Ghulam Nabi Khayal (*1936), Muzaffar Azim (*1934), Naji Munawar (*1934), Ghulam Nabi Nazir (*1933), Rashid Nazki (*1933), Moti Lal Saqi (1936–1999), Ghulam Mohammad Shad (*1936), Mishal Sultanpuri (*1936), Qazi Ghulam Mohammad (1945–1999), Farooq Nazki (*1940) und Zareef Ahmad Zareef (*1943) verfassten Werke in einem jeweils eigenen Personalstil, in denen sich hier und da ein Ausdruck des Schreckens über die Mordserien, die willkürlichen Schießereien, die schweren Körperverletzungen, die Pogrome, die Verschleppungen und über den Zusammenbruch der sozialen Ordnung wie über den Zerfall der Kultur zeigte.

Ich sehe mein Fenster halboffen,
eine Schwalbe ohne Nest betrachtet es.
Nesseln überwuchern meinen Garten,
jeder Stengel in meiner Domäne klagt.

Hinter dem Tor zwei wartende Augen:
die Luft hat das Stimmgewirr der Kindheit vergessen.
All die Vögel sind sprachlos.
Das Zwiegespräch in der Speisekammer:
“Was sollen wir für heute abend kochen?”
Das wonnige Jauchzen
unschuldiger Kinder
kannte keine Religion.

(Arjan Dev Majboor: janivaarahasihaa / Ich war ein Vogel 2002)


Dichter einer vergleichsweise jüngeren Generation wie Rafiq Raz, Gulshan Majeed, Syed Razi, Ali Shaida, Fayaz Dilber, Naseem Shafai, Shahnaz Rashid, Ranjoor Tilgami, Ismail Ashna, Bashir Athar, Satish Vimal, Muneebur Rahman, Mohammad Ramzan und Suneeta Raina beweisen einerseits ihr je eigenes Talent, den Vorgaben der Form treu zu sein, und wissen andererseits, abgedroschene Phrasen zu meiden, so dass sich ihre Poesie von übertriebenem Romantizismus befreit zeigt.

Die große Masse ihrer Gedichte allerdings steht ganz in der Tradition der geschlossenen Gattung lyrischer Poesie, namentlich des Ghazal (einer lyrischen Form, die aus fünf oder mehr alternierenden Reimpaaren besteht und damit dem Kanon der persisch-arabischen Prosodie entspricht). Rafi Raz wurde zum einflussreichsten Dichter in diesem klassischen Stil.

Das von der traditionellen Prosodie und vom Dekorum befreite ‘Kurzgedicht’ wird als die existenzfähigste Form von Dichtung empfunden. Es weiß um die Beschränktheit des Ghazal, dem wohl konstruierten Bild für eine Erfahrung, die einen eindeutigen Sprecher mit einem entrückten ‘Selbst’ kennt, eine gemäße Form zu geben. Das Gedicht ist hier nicht mehr die oberflächliche Behauptung einer Erfahrung, vielmehr ein bewusst geschaffenes Simulakrum, in dem sich individuelles Wahrnehmen spiegelt.

Der repräsentative Wesenszug der kaschmirischen Dichtung besteht in ihrer Möglichkeit zur Gleichzeitigkeit mit einmaligem Milieu und Augenblick unter Einbezug der Welt außerhalb des Dichters, von der sein Zugang zur Sprechweise der Zeit und seine Erfahrung bestimmt sind.

Dieses Gütesiegel des ‘Repräsentativen’ vor Augen lasse ich alle Dichtung beiseite, ohne sie einfach über Bord zu werfen. Die Dichtung, die sich endlos im Nachbilden der mystischen, andächtigen und empfindsamen Lyrik des 19. Jahrhunderts übt oder im Wiederholen der platten Aussagen über Grauen und Hypochondrie, von denen der dichterische Stil der Siebziger- und Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts geprägt war.

Einfach über Bord werfe ich hingegen all jene Texte, die mit verführerischen Ausstaffierungen wuchern und sich doch dichterischer Grundregeln nicht bewusst zeigen: Präzision, Selbstständigkeit gegenüber Ausdrucksparaphrasen, Absage an einen ausufernden Gebrauch von Adjektiven und an eine oberflächliche Uneindeutigkeit, die mit Hilfe von vorgefertigten Ausdrücken und formelhafter Wendungen erzeugt wird.

In unserer Dichtung muss eine verantwortungsbewusste Lebensführung zum Ausdruck kommen und sie muss der konkreten Erfahrung eines denkenden Selbst entsprechend wahrhaftig sein. Als eines, das ein stimmiges Bild von der Einsamkeit und dem Grauen eines alt gewordenen Paares liefert, ist das tyelyitiaz betitelte Gedicht eine stille Klage über den kulturellen Verfall:

“Machst du nun das Licht aus und schläfst?
Warum schläfst du nicht? –– Warum liegst du noch wach,
es ist schon 22:30 Uhr.”


“Erinnerst du dich an die, die
die ganze Nacht über das Licht nicht ausmachten,
warum stört Dich diese Lampe nun also?”


“Oh, wir fürchteten uns, die Dunkelheit
würde uns verschlingen,
und jetzt ist es das Licht,
das wirklich verschlingt…”

(Naji Munawar: tyelyitiaz / Dann und Jetzt, 1994)


Viele Gedichte drehen sich um den Standpunkt des Einzelnen in einem Gewebe der Verantwortlichkeiten wie – unverzichtbar für die Dichtung – um das fassbare Selbst als einer Bewegung von der Ahnungslosigkeit hin zur Erfahrung. Rein handwerkliche Kunstfertigkeit, eine schmückende Ausdrucksweise und ein formelhafter Mystizismus können keine Alternative zu einem verantwortungsvollen Schreiben sein, das auf die Lage unserer Zeit antwortet. Ein Dichter existiert nur in Beziehung zu den anderen um ihn herum.

Das Pfeifkonzert ist ein Vorspiel
für die Unruhe der regungslosen Schauspieler,
für den Aufruhr, der bei der Aufführung der Dialoge entsteht.

Lass uns pfeifen und wieder pfeifen,
tragen wir diese Ansteckungsgefahr
in die tauben und sprachlosen Behausungen

(Satish Vimal: shurnyi / Pfeifen, 2014)


Es geht darum, die entstehenden Unterschiede zwischen den Stimmen anzuerkennen und zu würdigen, statt sie zugunsten einer geistes-betäubenden Gleichförmigkeit zu unterdrücken.

Shafi Shauq wurde 1950 in Jammu und Kaschmir geboren. Er promovierte im Fach Anglistik und ist heute ein gefeierter Lyriker, Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Literaturkritiker. Nach 33 Jahren Lehrtätigkeit an der Universität von Kaschmir beendete Prof. Shauq seine berufliche Laufbahn als Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät und wurde pensioniert. Prof. Shauq ist an verschiedenen nationalen wissenschaftlichen Editionsprojekten beteiligt, wie z.B. der Encyclopedia of Indian Literature, Medieval Indian Literature, und dem Oxford Companion to Indian Theatre. Er hat Drehbücher für über 55 Fernsehfilme und Serien verfasst.
Prof. Shafi Shauq, 2015

Übersetzung: Nils Plath