Essays

Südasiatische Gegenwartslyrik

Goethe-Institut

Ein entscheidendes Jahr für die Rezeption südasiatischer Literatur in Deutschland war 2006. Die Frankfurter Buchmesse hatte Indien zum zweiten Mal (nach 1986) zum Gastland erklärt.

Eine Flut von Neuerscheinungen mit Bezug zu Indien ergoss sich über den deutschen Buchmarkt. Einige herausragende indische Autoren wie Kiran Nagarkar und Altaf Tyrewala wurden dabei dem deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Einige Wochen lang gehörte die indische Literatur zu den Hauptthemen der Feuilletons und Kultursendungen.

Bei genauerer Betrachtung muss jedoch festgestellt werden, dass die großen deutschen Verlage sich ganz überwiegend nur für einen kleinen Teilbereich der südasiatischen Literatur interessierten: für Romane, die von Autorinnen und Autoren verfasst worden waren, die ihre Werke auf Englisch verfassen und oft in Großbritannien oder in Nordamerika leben. Für Lyrik aus Südasien interessierten sich die bekannten Verlage fast überhaupt nicht. Doch es gab Ausnahmen, und die sollen hier etwas näher betrachtet werden.

Im A1 Verlag erschien unter dem Titel Der Banyanbaum ein schön gestalteter Band mit Gedichten des indischen Lyrikers Dilip Chitre, der sicher zu den bedeutendsten modernen indischen Dichtern zu zählen ist. Indische Dichter der Gegenwart war der Titel einer Anthologie, die der Wunderhorn Verlag publizierte. Dieser Band enthielt Gedichte von zwölf bedeutenden indischen Lyrikern, die ihre Werke auf Englisch verfassen.

Dann gab es anspruchsvolle Anthologien, in den neben Gedichten auch Erzählungen abgedruckt waren. An erster Stelle zu nennen ist hier der Band 223 von die horen Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Eine ähnliche Anthologie erschien unter dem Titel Indien erzählt - Im Schatten des Taj Mahal im Horlemann Verlag. Dieser Verlag publizierte auch den Band Kerala erzählt. Drei Blinde beschreiben den Elefanten, der Gedichte enthielt, die aus dem Malayalam ins Deutsche übertragen worden waren.

Drei Gedichtbände schließlich sind 2006 im Draupadi Verlag erschienen. An erster Stelle zu nennen ist die Anthologie Die später kommen von Vishnu Khare. Die „prosaischen Gedichte“ dieses Bandes wurden von Lothar Lutze kongenial aus dem Hindi ins Deutsche übertragen. Ich glaube nicht an Grenzen enthielt Gedichte des international hochgeschätzten und preisgekrönten indischen Lyrikers K. Satchidanandan, direkt aus dem Malayalam übersetzt von Annakutty V. K.-Findeis. Und auch ein Lyrikband der jungen bengalischen Dichterin Mandakranta Sen wurde auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.

Zusammen betrachtet kann gesagt werden, dass 2006 eine durchaus beachtliche Zahl von literarisch hochwertigen Lyrikübersetzungen aus südasiatischen Sprachen publiziert worden war. Allerdings wurden diese Werke kaum wahrgenommen. Das Medieninteresse richtete sich fast ausschließlich auf einige wenige Autoren, deren Werke (zumeist Romane) in bekannten deutschen Verlagen erschienen waren.

Von den ganz wenigen Übersetzungsbänden, die seit 2007 publiziert wurden, sind folgende Werke erwähnenswert: Felsinschriften, eine Sammlung zeitgenössischer Hindi-Lyrik , übersetzt und herausgegeben von Monika Horstmann und Vishnu Khare (2007), die Anthologie Nachtregen mit Gedichten von 34 Autoren aus 14 indischen Sprachen (übersetzt von Asok Punnamparambil, 2010), Tanz auf dem Seil von Sachchidananda Vatsyayan (übersetzt aus dem Hindi von Lothar Lutze, 2011) und Ein Tropfen Licht von O. N. V. Kurup (übersetzt aus dem Malayalam von Annakutty V. K.-Findeis, 2012).

Alle diese Lyrikbände erschienen im Draupadi Verlag. Zwei interessante Gedichtbände von Autoren, die ihre Werke auf Englisch verfassen, wurden von anderen Verlagen publiziert: Das Ministerium der verletzten Gefühle von Altaf Tyrewala (übersetzt von Beatrice Faßbender, Berenberg Verlag 2013) und Fräulein Militanz von Meena Kandasamy (übersetzt von Raphael Urweider, Wunderhorn Verlag, 2014).

Zusammenfassend muss also gesagt werden, dass – gemessen an der großen Zahl von Büchern, die jedes Jahr publiziert werden – nur sehr wenige Übersetzungen südasiatischer Lyrik in Deutschland publiziert werden. Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, dass es hierzulande kein Interesse an Gedichten aus dem Subkontinent gäbe. Einige Lesungen mit Mandakranta Sen 2006, mit O. N. V. Kurup 2012 und mit Meena Kandasamy 2015 waren gut besucht und stießen auf positive Resonanz.

Es bestehen heute viel mehr Möglichkeiten, Sprachen wie Hindi, Bengali oder Tamil zu lernen, als noch vor 40 oder 50 Jahren. Auch gibt es inzwischen einige sehr gute Übersetzer aus diesen Sprachen. Und erwähnt werden sollte, dass die Zeitschriften Meine Welt und Südasien regelmäßig Übersetzungen südasiatischer Gedichte veröffentlichen.

Wichtig wäre es, Übersetzungen südasiatischer Gedichte gezielt zu fördern. Mit relativ wenig Geld könnte hier viel erreicht werden.

Christian Weiß studierte in Heidleberg Germanistik, Geschichte und Indologie. Nach dem Studium arbeitete er als Lektor und Übersetzer für verschiedene Verlage. 2003 gründete er den Draupadi Verlag.
Christian Weiß, 2015
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