Essays

Eine durchschlagende Kampagne

Indische Lyrik in englischer Sprache findet mit vielfältigen Themen und Anliegen ihren Platz auf der globalen Landkarte der Dichtung, sagt Menka Shivdasani.


Es sind aufregende Zeiten für die indische Dichtung auf Englisch. Während die Zahl der Schriftsteller unheimlich zunimmt, Werke veröffentlicht werden, die sich mit den besten der Welt messen lassen können, publizieren etablierte Autoren wie Keki Daruwalla und Adil Jussawalla weiterhin neue Bücher. Jussawallas dritte Gedichtsammlung, die mit dem Sahitya Akademi-Preis ausgezeichnet wurde und den Titel Trying to Say Goodbye trägt, wurde 2011 veröffentlicht – 35 Jahre nach seinem Buch Missing Person. Vijay Nambisan, der ebenfalls nach langer Pause wieder etwas veröffentlichte, brachte 2015 das Buch First Infinities heraus: 22 Jahre nachdem seine ersten Gedichte gedruckt wurden.

In den vergangenen Jahren erschienen außerdem wichtige Anthologien wie Jeet Thayils The Bloodaxe Book of Contemporary Indian Poets (2008). Der ursprünglich aus Indien stammende, in den USA lebende Vijay Seshadrigewann 2014 erhielt den Pulitzer-Preis für Dichtung und der in Großbritannien ansässige Imtiaz Dharker, ebenfalls ein eingemeindeter Inder, erhielt im gleichen Jahr die Queen's Gold Medal für Dichtung.

Das Spektrum der Motive und Themen der Dichter ist breiter denn je und eine neue Generation, die das Englische wie eine Muttersprache beherrscht und mit einer enormen Selbstsicherheit schreibt, fühlt sich zu freien Experimenten berufen wie dazu, die Grenzen der Sprache auszutesten. 

„Die Themen der Gedichte und ihre poetischen Anliegen sind unglaublich groß und breit gefächert,“ schreibt Sudeep Sen in The Harper Collins Book of English Poetry (2012), in dem 85 auf Englisch schreibende indische Dichter aufgeführt werden. „Da gibt es Introspektion und Geselligkeit, Politik und Pädagogisches, Geschichte und Naturwissenschaftliches, Krankheit und Phantasie, Liebe und Erotik, Sex und Tod – die Liste ist ausufernd, endlos und lässt sich nicht schließen.“ Die indischen Dichter sind nach seiner Ansicht „richtig in Fahrt“, benutzen Vers libre oder klassische Schemata, schreiben Triolen oder Ghazals, lyrische Narration oder Prosagedichte, Sonette, Rubai, Haikus, Tanka und vieles mehr.

Kein Gegenstand ist tabu. In seinem Gedicht Sind inYaarana: Gay Writing from India 1 (ed. Hoshang Merchant, Penguin India 1999) schreibt Merchant:

„Bei einem Singhi-Jungen fand ich erste Liebe
Er empfand Liebe, nahm mich als Junge jedoch von hinten
Wie der Heilige Geist des Nachts St. John auf den Treppenstufen zu Gott nahm.“

Vertraute Themen wie Exil und Zugehörigkeit, urbane Orte und Vertreibung behaupten ihre Präsenz. In der Phase kurz nach der Unabhängigkeit schrieb Nissim Ezekiel von einer „barbarischen  Stadt krank an Slums“ – einem Ort, den er nicht verlassen kann, da er hier „geboren“ sei und „hingehöre“ 2.

Arun Kolatkars Gedicht Kala Ghoda Poems (Pras Prakashan 2004) wirft einen eindringlichen und mitfühlenden Blick auf die Eingeweide der Straßen von Mumbai – den streunenden Hund, die Prostituierte, den Leprosen, den Bettler, die Frau, die ihr feuchtes Haar mit einem feuchten weißen Flicken ihres Unterhemdes trocknet, das „so groß ist wie China“. Die Stadt „schleicht sich“ an Arundhathi Subramaniam „heran“, während sie in ihrem Gedicht Madras aus ihrer ersten Gedichtsammlung Where I Live (Allied Publishers 2005) im Begriff ist, ihr „Weltbürgertum/zu bestätigen“. In Mustansir Dalvis Peabody (Brouhahas of Cocks, Paperwall 2013) schält ein Pendler morgens um 8.39 Uhr im Nahverkehrszug nach Belapur Erbsen aus den Hülsen.

Geschichte trifft auf die Moderne. In Anand Thakore's Mughal Sequence (2012) 3 „rekonstruiert der Dichter nicht nur Episoden aus dem Leben der Herrscher, sondern auch das einer seherischen Prinzessin, einer unterdrückten Tänzerin und eines düsteren Kohinoor-Diamanten“, wie Adil Jussawalla schreibt. „Die zeitgenössische Dichtung strotzt nur so von historischen Bezügen“, fügt er hinzu. „Aber ich habe selten etwas so Ambitioniertes und Atmosphärisches wie Babur, after the Victory at Khanua gelesen.“

Ranjit Hoskotes Werke „sind Akte der Wiedergewinnung von Vergangenheit“, findet Sumana Roy 4 in dem Artikel „Portrait of a poet as historian“, während Hoskote selbst im Gespräch mit seinem Dichterkollegen Mustansir Dalvi 5 meint, seine Dichtung sei stark von „verlorenen, möglichen oder verborgenen Vergangenheiten“ beeinflusst und mache erkennbar, dass es „notwendig sei, die Geschichte kritisch zu betrachten, wenn wir aus ihr nachhaltige Energie beziehen  wollten.“

Keki N. Daruwallas jüngere Gedichte aus Fire Altar (HarperCollins India 2013) feiern ebenfalls die „Geschichten und Legenden des Persischen Reiches mit seinem Nachdruck auf Toleranz“, in einer Reise auf der Suche nach „Wurzeln, Bedeutung sowie religiöser und sozialer Verständigung“.

Persönliche und autobiographische Themen werden zentral. Bruce King bespricht Jeet Thayils Collected Poems (Aleph 2015): „Thayil ist ein ausdrucksstarker lyrischer Dichter des Unbehagens und der Desillusion. Wo die Mehrzahl der indischen Dichter ihre Verse in der Tradition von A.K. Ramanujans Übersetzungen modellierte – das heißt, ganz nach dem Vorbild dieses unpersönlichen, wohldurchdachten, von Generation an Generation weitergegebenen Sammlungsbestandes, der von einem Autor angefertigt wurde, von dem nichts Persönliches und über die Gepflogenheiten seiner Kunst hinaus wenig bekannt ist – ist Thayil dagegen freizügig, hochfliegend und überaus dramatisch. Seine Sprache, Redewendungen, Kadenzen glänzen, aber sie handeln von Verlust, Schmerz, Unzufriedenheit, krankhaften Obsessionen. Sie sind der wiederholte Ausdruck eines Verlangens nach Liebe und Sinn, gefolgt von Unzufriedenheit, Selbstironie und dem Wunsch, sich selbst zu verlieren …“ 6

In Self-Portrait 7, derüberarbeiteten Fassung des ursprünglichen Gedichts von Thayil, liest man:
„Unglücklich sein ist eine Art von Yoga, sagte er sich
jeden Morgen, eine Atem-Meditation; überdies,
willst du glücklich sein oder willst du schreiben?“

Schriftsteller wie Thayil, Nambisan und Hoskote wissen sehr genau, dass sie den Generationen vor ihnen viel zu verdanken haben. Für sie und uns alle, die wir auf Englisch schreiben, war 2004 ein besonders trauriges Jahr, da gleich drei einflussreiche Dichter starben: Nissim Ezekiel, Dom Moraes und Arun Kolatkar. Alle drei hinterließen reichhaltige Vermächtnisse. Um es mit den Worten von King zu sagen: „Wenn die drei nicht gestorben wären, hätte 2004 ein ausgezeichnetes Jahr sein können – mit der Veröffentlichung von Moraes Collected Poems 1954–2004, Kolatkars zwei Bänden – Sarpa Satra und Kala Ghoda Poems – und einer Neuausgabe von Ezekiels Collected Poems.“

Noch vor nicht allzu langer Zeit wurden indische Schriftsteller, die auf Englisch schrieben, empört gefragt, warum sie nicht in ihrer Muttersprache schreiben würden. Heute, da die indische Dichtung auf Englisch den ihr zustehenden Platz auf der Landkarte der Weltliteratur eingenommen hat, wird niemand von Verstand diese Frage noch stellen. 

Verweise

  1. http://www.museindia.com/viewarticle.asp?myr=2005&issid=1&id=26
  2. http://ashvamegh.net/urban-sensibility-in-nissim-ezekiel-poetry/
  3. In Anand Thakore's Mughal Sequence (2012) „rekonstruiert der Dichter Episoden nicht nur aus dem Leben von Herrschern, sondern auch die einer seherischen Prinzessin, einer unterdrückten Tänzerin und eines düsteren Kohinoor-Diamanten“, wie Adil Jussawalla bemerkte...
    http://www.anandthakore.com/#!mughal-sequence/ccmg
  4. http://scroll.in/authors/893
  5. http://asanyfuleknow.blogspot.in/2014/07/central-time-in-conversation-with.html
  6. http://www.livemint.com/Leisure/FSZ4Vd29tQ6ttwomKDIF4M/Book-Review-Collected-Poems-by-Jeet-Thayil.html
  7. Wenn nicht diese drei Dichter gestorben wären, wäre 2004 ein ausgezeichnetes Jahr gewesen
    http://openspaceindia.org/listen/item/343-bruce-king.html

Menka Shivdasani hat bislang drei Gedichtbände veröffentlicht: Nirvana at Ten Rupees, Stet und Safe House. Bei der Veröffentlichung der Lyrikanthologie Freedom and Fissures, die den Heimatverlust der Sindhis im Zuge der Teilung Indiens thematisiert, hat sie als Übersetzerin mitgewirkt. Darüber hinaus war sie Herausgeberin der SPARROW Anthology of Women's Writing. Für das amerikanische E-Zine www.bigbridge.org hat Menka zwei Anthologien mit zeitgenössischer indischer Lyrik herausgegeben. Außerdem koordiniert sie die globale Bewegung 100 Thousand Poets for Change in Mumbai. Die Gründung des Poetry Circle in Mumbai im Jahr 1986 geht auch auf ihre Initiative zurück.
Die Lyrikerin Menka Shivdasani hat drei Gedichtbände veröffentlicht,
zuletzt Safe House, das bei Paperwall Media & Publishing erschien
https://paperwall.in/books/55/Safe-House

Übersetzung: Nils Plath