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Seit ewigen Zeiten – Eine Einführung in die Sindhi-Dichtung

Von volkstümlichen Traditionen und klassischer Form bis zur Widerstandsdichtung und gegenwärtigen Neufindungen: Die Sindhi-Dichtung bleibt fest in ihrer Geschichte verwurzelt.

Mit ihrer Geschichte, die bis zur Zivilisation im Indus-Tal zurückreicht, ist Sindhi eine der ältesten Sprachen in Südasien. Sie besitzt einen reichen Wortschatz und es gibt zahlreiche Volksweisen, die durch die orale Tradition des Sindh in Form von Rezitationen und Liedern im Laufe von Generationen mündlich überliefert wurden.

Der vom Barden Bhagoo Bhaanverfasste Dodal Raso, der zu den ältesten Epen in Sindhi gehört, stammt schätzungsweise aus dem Jahr 1000. Die Soomra-Periode (1050–1350) war bedeutsam, da damals Sindhi-Liebeserzählungen populär wurden. Während der Samma-Dynastie, die Sindh von 1351 bis 1521 beherrschte, wurde Qazi Qadan zu einem berühmten klassischen Dichter, auf den weitere wie Shah Abdul Karim Bulrai, Shah Lutuf Ullah Qadri und Shah Inayat folgten.

An Ende des 17. Jahrhunderts erlebte das Land der Sindh die glückliche Geburt eines der größten Dichter der Welt: Shah Abdul Latif Bhittai. Shah Latif, wie er meist genannt wird, ist ein Dichter, der Zeit und Raum transzendiert. Sein Denken, seine Einbildungskraft, seine Ausdrucksweise, die kraftvollen Inhalte und die Perfektion von Reim und Rhythmus machen ihn so einmalig und zeitlos. Sein Universalismus fand die Bewunderung vieler berühmter Gelehrter, z.B. Dr. H. T. Sorely 1 und Dr. Ernest Trumpp. Im 20. Jahrhundert dann wurden bedeutende Sindhi-Dichter wie Sachal Sarmast nicht nur als Dichter, sondern in Südasien auch als Heilige verehrt. Dann gab es noch Sami, einen großartigen Vedanti-Dichter, und Khalifo Nabi Bux, der zu den letzten großen klassischen Dichter des Sindh gehörte.

Während der Britischen Zeit 2 (1843–1947) wurde Sindhi zur offiziellen Sprache von Sindh erklärt – 1848 durch den Gouverneur der Präsidentschaft Bombay Sir George Clerk und in einer entsprechenden Verordnung 1857 von Sir Bartle Frere. Dadurch bekam das Sindhi einen offiziellen Status als Verkehrssprache in der Rechtsprechung, in der Finanzverwaltung und in der Bildung.

Während dieser Phase einer literarischen Erweckung verfassten viele neue Sindhi-Schriftsteller Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Essays. Während sich Sindhi-Prosa zur Kunst des Jahrhunderts entwickelte, begannen Sindhi-Dichter mit neuen Dichtungsexperimenten: In Ergänzung zu den typischen Sindhi-Kalaams mit kaafi, wai und bait-Formen begannen sie auch Ghazals und Nazms zu verfassen. In dieser Zeit wurden auch die Mushairas 3, in denen„Tarahi 4-Ghazals vorgetragen wurden, immer beliebter.

Sindhi-Dichter brachten es in den Formen kaafi, wai und bait zur Meisterschaft: Formen von Dichtung, die eher der Musik ähneln als der Prosodie. Es gab unter ihnen eine Reihe, die Ghazals verfassten; diese Dichter waren Meister in Farsi, „Behr Wazan“ 5, und viele von ihnen wurden ehrfurchtsvoll „Ustad ul Shura“ 6genannt. Zu ihnen gehörten Mir Abdul Hussain „Sangi“, Mirza Qaleech Baig, Akhund „Gul“, Ghulam Muhammad Shah “Gada“ and Hafiz “Haamid“. Zahlreiche “Ghazalgo-Dichter 7 folgten ihnen – wie Dr. Ibrahim „Khalil“, Makhdoom Muhammed Zaman „Talibulmaula“, Ahsan ul Hashmi, Shabbir “Haatif“ und andere. Unter den modernen Autoren finden sich ebenfalls viele, die den Ghazal schrieben. Arjan „Haasid“, Arjan „Shaad“ und M. Kamal waren reine Ghazal-Dichter mit einem modernen Stil, während Shaikh „Ayaz“, Imdad Hussaini, Tanveer Abbasi, Shamsher ul Haidri und Zulfiqar Rashdi auch den modernen Ghazal schrieben. Zu den neuen, talentierten Ghazal­-DichternzählenMasroor Pirzado und Muzamil “Sair“.

Die Teilung (1947) lähmte die Sindhi-Literatur, da gebildete Sindhis – einschließlich prominenter Schriftsteller, Gelehrten und Dichter – nach Indien auswanderten. Darunter waren die Dichter Narain Shyam, Moti Parkash und Hari Dilgeer. Dilgeers erstes Buch wurde 1942 in Sindh veröffentlicht und noch nach seiner Auswanderung 1958 unterhielt Dilgeer bis 1968 rege Kontakte mit Sindh. Sogar heute noch gibt es in Indien erwähnenswerte Dichter, die in Sindhi schreiben.

Die modernen Sindhi-Dichter sahen sich mit den Folgen jener politischen Maßnahmen konfrontiert, die den Gebrauch des Sindhi zurückdrängen sollten. Im Kampf um ihre Sprache und ihre Identität, die bis auf die antike Mohenjo Daro Zivilisation zurückgeht, belebten sie alte Volkslieder und füllten diese mit neuer Bedeutung. So wurde Mohenjo Daro zu einem Symbol für Kultur und Literatur. Sie erneuerten auch die Formen klassischer Sindhi-Dichtung wie wai und bait. Die Themen reichten von der Liebe zu Sindh bis zu den Leiden und Freuden des Volkes. Führende Dichter wie Abdul Karim „Gadai“, Shaikh „Ayaz“, „Tanvir“ Abassi, Imdad Hussaini, Ilyas „Ishqi“ oder Makhdoom Muhammad Zaman „Talibulmaula“ schrieben wunderschöne baits und wais. Kafi, eine lyrische Dichtungsform, besitzt einen unmittelbaren Bezug zur Musik, weshalb es den Darbietenden auch nicht an Musikalität mangeln darf und sie von„soz o saaz“ 8 erfüllt sein müssen. Makhdoom „Talibulmaula“, Arif ul Maula, Hussain Bux Khadim, Imdad Hussaini und Mir Abdul Rasool „Meer“ schrieben schöne und bewegende Kafis.

Die Zeit von 1955 bis 1975 gilt als das goldene Zeitalter der modernen Sindhi-Dichtung. Die Sindhi Vierteljahresschrift Mehran, die 1955 erstmals erschien, erwies sich als ihr Katalysator. Sie half mit einem neu geschaffenen Empfinden für nationale und internationale Sichtweisen, neue Traditionen, Symbolismen und soziale Veränderungen zu befördern.

Nach Verhängung des „One Unit“ 9 entstand eine starke Widerstandsdichtung. In dieser Zeit änderten sich auch Formen, Inhalte, Sprechweisen, Bildlichkeit und Stil. Dichter experimentierten mit freiem Vers, Triolett, Haiku. Und sie erfanden neue Formen der Poesie. Die Dichtung dieser Ära kennzeichnete eine moderne Empfindsamkeit, Knappheit und Kontrolle. Shamsher ul Haidri und Imdad Hussaini schrieben freie Verse von großer Intensität. Abdul Karim Gadai, Hari Dilgeer, Shaikh Ayaz, Narayan Shyam, Tanvir Abbasi und Imdad Hussaini zählen zu den bekanntesten Dichtern dieser Periode. Der Jüngste von ihnen, Hussaini, fasziniert noch heute mit seiner Dichtung und gilt als lebende Legende. Sein Epos Shahar handelt von einem Gemetzel in einer Stadt in Sindh. Als wichtige moderne Dichter sind neben anderen Bardo Sindhi, Zulfiqar Rashdi, Moti Parkash, Kirshan Raahi, Kala, Parkash, Harikant, Qamar Shahbaz, Taj Baloch, Altaf Abassi, Nand Javeri, Sahar Imdad und Anwar Pirzado zu erwähnen.

Auf die moderne Periode der Sindhi-Dichtung folgte die Zeit von „Naeen Tahi“ 10mit Dichtern wie Ayaz „Gul“, „Adal“ Soomro, „Naseer“ Mirza, Ahmed Solangi, Tanya Thebo, Aijaz Mangi, Attiya Daud, Amar Sindhu, Masroor Pirzado, Amar Pirzado und Rubina Abro. Allerdings ist die Dichtung eine Sache der Erfahrung, und sie alle haben noch viel zu lernen.

Die folgenden Nazms stammen von Shaikh Ayaz und Imdad Hussaini:
 
 Freiheit
 
“Wer kann sagen, es gäbe hier keine Freiheit? 
Schakale sind frei;
Fliegen sind frei; 
Hier sind die Intellektuellen frei; 
Dichter dürfen fromme Rezitationen im Fernsehen abliefern
Der Bauer ist frei 
Er kann sich die Läuse aus dem Haar kämmen oder kann es lassen.
Jeder ist frei in diesem Land, das bald durchdreht,
Wo sich die Schlangen in Spalten verbergen
Und Wölfe Höhlen für ihren Nachwuchs graben.”

(Shaikh Ayaz; übersetzt nach der englischen Übersetzung von Asif Farukhi in Storm Call for Prayers)

Der Angriff
 
Die Zeit lenkte den Überfall und der Dolch der schwarzen Nächte
wurde bis zum Griff in die Brust der Welt gestoßen
und wie gewohnt wurde alle Energie verbraucht. 
Der Ruf zum Gebet von der Moschee
ertönte und verklang, 
Die Statur des Buddha im Museum kippte kopfüber um
Die Flöte wurde in viele Stücke zerschlagen. Alle Melodien, alle Lieder zum Verstummen gebracht.
Der Weise aus Griechenland trank den Schierlingsbecher. 
Eine jungfräuliche Maria hinterließ ein vaterloses Kind auf den Stufen der Kirche. 
Der tote Körper der Stadt wurde mit einem schwarzen Chador verhüllt
Die Dunkelheit des Grabs griff nach jeder Seele, 
Aus allen Richtungen kamen die Ungeheuer des Schmerzes und der Einsamkeit
Und die Fahrspuren der Stadt
Bevölkerten Banditen der Trostlosigkeit und Diebe der Stille.
Kalte, grimmige Winde klopften an Türen
So dass zumindest einige Leute bei der Trauer um die Stadt dabei wären
Und einige Schreie am Fest der Hölle teilhaben!”

(Imdad Hussaini; übersetzt nach der englischen Übersetzung von Asif Farukhi (bisher unveröffentlicht))

Verweise

  1. In seinem Buch Musa Pravagans vergleicht Sorely Shah Abdul Latif Bhittais Dichtung mit den Werken anderer berühmter Dichter aus vielen Ländern und stellt darin Shah Latif als diesen überlegen dar.
  2. James C. Melvill, „Scinde, a copy of a report of Sir George Clerk, Governor of Bombay, 1848, on the Administration of Scinde, East India, Sir George Clerks minutes on Sind“, S. 15.
  3. „Mushaira“ ist ein Dichtertreffen, bei dem Gedichte vor Publikum vorgetragen werden. .
  4. Eine Zeile aus einem Ghazal-Couplet wird jedem Dichter vorgegeben, um daraus einen „Ghazal“ im gleichen Metrum und Reim zu verfassen.
  5. Persische Prosodie/Metrik, die in Sindhi-Dichtung gebräuchlich ist.
  6. Ein Dichter, der als Lehrmeister jungen Dichtern die Techniken vermittelt.
  7. Jemand, der „Ghazal“ schreibt, wird Ghazalgo genannt.
  8. Schmerz und Vergnügen
  9. „One Unit“ war eine Verwaltungsanordnung zur „Parität“, durch welche die vier Provinzen West-Pakistans 1954 vereint wurden.
  10. Naeen Tahi zählt zur neuen Generation.

Dr. Sahar Imdad Shah ist als Privatdozentin am "Arzu Center for Vernacular Languages School of Arts, Humanities and Socal Sciences" in Karachi tätig. Als anerkannte Wissenschaftlerin hat sie Arbeiten zu verschiedenen Bereichen der Sindhi-Literatur, vor allem über Shah Abdul Latif Bhittai, Sachal, Sami, Sangi, Qaleech und andere moderne Sindhi-Dichter veröffentlicht und ist zudem selbst Dichterin. Sie war in früherer Zeit als Journalistin tätig und schreibt bis heute Kolumnen für verschiedene Zeitungen. Außerdem hat sie acht Bücher veröffentlicht.
Dr. Sahar Shah
Übersetzung: Nils Plath