Essays

Abweichungen von der Amalgamierung in bengalischer Gegenwartsdichtung

Goethe-Institut

In der Gegenwartsdichtung aus Bengalen trifft ein Mittelklasse-Romantik-Ethos auf Protesthaltung, Experimentelles auf Populismus und Spiritualität auf Politik.

Die bengalische Dichtung ist bis in die jüngste Zeit fest im Griff einer modernistischen Grundüberzeugung. Sie lässt in Teilen eine internationale Ausrichtung erkennen, ist meist aber doch sehr heimatverbunden und in einer provinziellen Geisteshaltung gefangen. Zweierlei macht dies deutlich. Die Ausdrucksweisen und formellen Experimente haben sich abgesehen von einigen kühnen Ausnahmen in den vergangenen siebzig Jahren kaum geändert. Mehr noch hat der bürgerliche Modernismus in Dichterkreisen dasjenige, was ausgesprochen politisch oder kosmisch sein könnte, in etwas verwandelt, das mit einem sehr allgemeinen und letztlich nichtssagenden Begriff „protibaadi kobita“(Protestdichtung) bezeichnet wird.

Dichter wie Bishnu Dey, später dann auch Subhash Mukhopadhyay und Birendra Chattopadhyay, traten mit einer eindeutig fortschrittlichen politischen Haltung auf. Wie kam es, dass diese so an Bedeutung verlor? Literarische Zeitschriften wie Krittibas und Shatabhisha und ihre Beitragenden bewirkten, dass sich eine solche politische Überzeugung im günstigsten Fall in Protest verwandelte. Sankha Ghosh und Joy Goswami, die beiden Säulenheiligen der Gegenwartsdichtung (und, wichtiger noch, auch der Dichtungskritik), haben hingegen dafür gesorgt, dass Dichtung vernünftig, empfindsam und Protest-würdig wurde.

Goswami war es auch, der eine der bemerkenswertesten Verschmelzungen der 1990er-Jahre beförderte: Als der für Lyrik zuständige Redakteur von Desh brachte er ganz verschiedenartige Dichter in den Schoß der größten Unternehmensgruppe Bengalens, der Ananda Bazar Patrika Group. In Folge dessen begannen bestimmte Dichter, die ein Jahrzehnt zuvor noch alternativen Kreisen angehört hatten, mit zunehmender Lust für die Mittelklasse zu schreiben. Zu den größten Opfern zählten mächtige Lyriker wie Utpal Kumar Basu, Partha Pratim Kanjilal und Ranajit Das. Mit all seiner Dynamik schaffte es Goswami nicht nur, den Idealismus hinter der Bewegung der kleinen Zeitschriften zu diskreditieren, sondern auch einen bemerkenswerten Mittelklasse-Romantik-Ethos in Sprache, Sprechweise und Themenwahl zu initiieren und zu bedienen.

Katha bolar chhondo (ein Rhythmus, der der Sprache ähnlich ist) galt so dann als Vorgabe, um Lyrik zugänglich zu machen. Das Leitbild war ganz offensichtlich eine leserfreundliche und demokratische Dichtung. Doch tatsächlich führte die Entwicklung zur zunehmenden Verdummung. Das ist, was Geoffrey Hill in anderem Zusammenhang von der Dichtung einer Carol Ann Duffy behauptete, nämlich, dass sie „…die sprachlich-semantischen Trümmer unseres gegenwärtigen Zeitalters eines oligarchischen Konsumismus” humanisiere. Bei Goswami und seinen Anhängern wäre „oligarchisch” durch den Begriff „markt-konform” zu ersetzen. Die „Goswami-Amalgamierung“ und das Ausbilden von Seilschaften führten dann zu aktuellen Phänomen wie jener Poeten-fürs-Fernsehen, wie sie von Srijato und Mandakranta Sen personifiziert werden.

Heißt das, dass in der gegenwärtigen Dichtung aus Bengalen keinerlei Partisanen, Experimente oder Stimmen eines Non-Konformismus mehr zu finden wären? Ja und nein. Ja, weil es sehr schwierig ist, überhaupt klare Indikatoren für eine eindeutige non-konforme Position zu benennen. Shakti Chattopadhyayas Dichtung steht im Großen und Ganzen in einer Boheme-Tradition, doch von seinem Standort und von seinen Netzwerken kann man das nicht gerade behaupten. Shaktis Beziehungsgeflecht, mit dem er bewusst arbeitet, ist keineswegs unumstritten. Und diese Tatsache sollte man nicht einfach trivialisieren. Eine so gut gepflegte Selbstpositionierung erlaubt denn nichts anderes als eben protibadi kobita.

Ein weiteres vertracktes Beispiel sind die klassischen und reduzierten Arbeiten von Anirban Dharitriputra. Obwohl er zu der Szene um das großartige Alternativmagazin Anubarton gehört, geht es ihm doch sehr um den eigenen Ruhm, weshalb seine Arbeiten folgerichtig in Mainstream-Zeitschriften erscheinen.

Nachhaltig kritische und bemerkenswerte Dichter von Kamal Chakraborty bis Sumanta Mukhopadhyaya schreiben ebenfalls für Mainstream-Publikationen und versuchen, ein größeres Publikum zu erreichen. In ihrer Lyrik findet man durchaus ein bestimmtes Kritikpotential, das über unseren kleingeistigen Idealismus hinausgeht, hinter dem sich nicht selten Neid und Provinzialismus, im Namen von Authentizität und Mittelstand, verstecken.

Man denke auch an Dichterinnen, die in der Nachfolge von Gita Chattopadhaya and Debarati Mitra zuvor unbekannte Empfindsamkeiten in die bengalische Dichtung eingeführt haben. Neben einer naheliegenden thematischen Konzentration auf Sexualität und Intimsphäre entdeckt man bei ihnen auch einen politischen Gestus, der jenseits des offiziellen kommunitaristischen oder klassenbasierten Radikalismus gelebt und ausagiert wird. Die Dichtung von Anjana Chakrabarty und Kabita Sinha wird von solchen Anliegen geleitet.

Abschließend möchte ich zu einer Reihe von Dichtern kommen, die sich auf unterschiedliche Weise von dieser benommen machenden Verschmelzung fern zu halten wussten. Das gelang, weil ihr jeweiliges dichterisches Universum in ständiger Entwicklung begriffen ist, eine Art Suche darstellt und nicht unter einem spießigen Provinzialismus oder Dogma verkümmert. Ein Weg dorthin ist der eines für sich stehenden romantischen und beinahe therapeutischen Spiritualismus: Monindra Gupta führt diese Richtung an. Es ist ihm gelungen, sich fern aller Vermarktung sowie aller Banalität des leicht Zugänglichen zu bewegen. Seine Stärke ist der Glaube an die kosmische Vorstellung einer natürlichen und kollektiven Erinnerung.

Binoy Majumdar ist ein altes Mitglied der gleichen Schule, seine Werke sind allerdings überlegter entworfen. Kommunitaristischer Lokalbezug findet einen wirkungsstarken Ausdruck bei Dichtern wie Prasun Bandyopadhyay (der die Zeitlosigkeit im und durch das alltägliche Ethos Nordkalkuttas aufwertet), Biswadeb Mukhopadhyay (der das Palimpsest der Vorstädte in die Darstellung eines kosmischen, utopischen Harmoniebewusstseins verwandelt), Avik Bandyopadhyay und Sovan Bhattacharya. Mehr noch als die Auseinandersetzung mit ihrer Klassenzugehörigkeit ist es die mit ihrer jeweiligen Kaste, die erkennen lässt, wie für sie der Ausdruck eines grundsätzlichen Unzugehörigkeitsgefühls auch zu einem Wunsch nach kosmischer Harmonie wird. Damit kann man sie ganz im Einklang mit jenem Verlangen nach einem spirituellen Modernismus sehen, wie er seit dem 19. Jahrhundert in Bengalen verankert ist.

Für die andere Richtung steht Bhaskar Chakraborty. Bhaskar konnte der Goswami-Amalgamierung entgehen, weil er von sich nie behauptete hatte, überhaupt ein alternativer Dichter zu sein. Er hielt sich vom Firlefanz und dem Glanz fern, und seine Melancholie und Robustheit kommen erst jetzt allgemein zu Bewusstsein. Die seltene Gabe, zugleich lyrisch, ruhig und von Zorn erfüllt zu sein, besitzen Dichter wie Pranabendu Dasgupta (sanftmütig in seinen frühen Arbeiten bis er dann in den 1990ern Sturm lief gegen Konsumkultur und Globalisierung) und Rana Roychowdhury (die aus einem Arsenal hitziger Vorstadtwut und krasser Bildlichkeit schöpft). Eine nichtspirituelle Abgrenzung erkennt man auch in den Gedichten von Ekram Ali, Sarthak Roychowdhury und Anindita Mukhopadhyaya.

Drei weitere Dichter gilt es noch als Beispiele zu erwähnen, die zeigen, dass es doch auch andere außerhalb des unscharf umrissenen Feldes der protibaadi kobita gibt. Zwei von ihnen sind bereits verstorben. Swadesh Sen, ein beachtlicher Dichter aus dem nicht in Bengalen gelegenen Jamshedpur, wusste unsere Modernität und ihre natürlichen Folgeerscheinungen in Sprache zu fassen, ohne sich einem Konformismus hinzugeben. Der zweite ist Falguni Roy, dessen Dichtung und Leben ein Zeugnis für die Kraft des Ausschweifens durch Widerstand gegenüber dem Leben und seiner Mühen sind. Bei dem dritten handelt es sich um Mridul Dasgupta. Obwohl er sich gelegentlich mit dem Populismus einließ, behielt seine Dichtung eine klare politische Linie, die sich deutlich von der schlapp gewordenen Geißel des Protests und der Demokratie unterscheidet.

Rana Roychoudhurys Sammlung von Gedichten mit dem Titel Wild Donkey’s Bray 1ist ein Meilenstein in der Gegenwartsdichtung Bengalens. Sie rüttelt an eingeführten Empfindungsweisen und bestimmten spirituellen Wendungen, die zur Norm geworden sind.

Worte

Schlange
umreist das Haus

Furcht
umreist das Haus

Die reisende Furcht
gelangt so ins Loch

Was, wenn Worte
wieder hochkommen?

Wo soll ich dann das Gift aufheben?
Wo soll ich den Schmerz aufbewahren?

Anindita Mukhopadhyayas Anthologie Aeolian School Balcony 2 ist eine nominalistische Erforschung des Kreatürlichen und Schutzlosen in einem unzeitigen Kosmos.

Ablage
Nein, nein, Gnade, richtet nicht das Licht auf mich
Meine Augen beginnen zu brennen und ich komme immer ins Schwitzen
Nein, mir ist nicht unangenehm – vielmehr fühle ich mich im Recht, wenn angespornt
Ich bedarf noch weiterer Züchtigung
Auf dem Schemel des Rohrstock-Lehrers sitzend könnte ich mein ganzes Leben lang heulen, 
Nur eine einzige Schallplatte besitze ich – gebraucht – die spiele ich manchmal  
“Du hast schön geformte Finger, weine nicht.”
Meine Freunde, alle von ihnen liebe Menschen, während der Zeiten der Erholung
Hoffe Du würdest mich vorladen, wenn Du Dich an mich wieder erinnertest–!
In diesem Gedränge verstecken sich alle meine Gedichte im Badezimmer
Ich kann mich an nichts mehr erinnern Hujur, Milord–
Auf ein oder zwei Gesichter setzen wirklich
Bei Gott, ich habe niemanden an dem Tag lächelnd angesehen.

Verweise

  1. Natmandir, Kolkata, 2010
  2. Saptarshi Prakashan, Kolkata, 2009
Prasanta Chakravarty
Prasanta Chakravarty lehrt als Associate Professor in New Delhi und ist Herausgeber des e-Magazin Humanities Underground.

Übersetzung: Nils Plath