Essays

Assamesische Lyrik im Zeitalter der sozialen Medien

Der Zuwachs an Nutzern sozialer Medien in Assam, vor allem Facebook, hat dichterischem Schaffen Aufwind gegeben.

Die beste Zeit, Dichter in Assam zu sein, ist heute. Es gibt mehrere Literaturzeitschriften, die auf eine treue Leserschaft ausgerichtet sind, sowie 'kleinere', unregelmäßig erscheinende Hefte. Der Zuwachs an Nutzern sozialer Medien in Assam, vor allem Facebook, hat dichterischem Schaffen Aufwind gegeben. Die deutlichste Veränderung ist der Anstieg der Zahl an Dichtern. Ein Dichter mit einer Stimme muss heute nicht mehr auf die Bestätigung durch einen Redakteur warten. Die sozialen Medien ermöglichen unmittelbares Feedback, sodass ein Dichter seine Facebook-Seite als Sprungbrett für ein neues Gedicht verwenden kann. Auf diese Weise kann man eine neue Idee einführen oder ein paar Verse präsentieren und das Gedicht dann weiterschreiben mittels der Rückmeldungen, die man bekommen hat. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf junge, aufstrebende Lyriker; sogar etablierte assamesische Dichter nutzen die sozialen Medien zunehmend als Kreativ-Werkstatt.

Die Facebook-Präsenz des Dichters Harekrishna Deka, Preisträger der Sahitya Akademie, mag als Beispiel dienen. Deka begann schon früh, soziale Medien zur Verbreitung seiner Gedichte zu nutzen und postet diese regelmäßig auf seiner Seite. Er hat sehr viele Anhänger, einige folgen ihm auch auf Facebook. Seine Seite hat derzeit 13.000 Follower. Dekas neustes Gedicht wurde am 29. November 2018 auf Facebook unter dem Titel 'Sunyo' ('Null', 'Nichts' oder 'Leere') veröffentlicht. Binnen zwölf Stunden wurde es von einem Leser übersetzt und mit dem Titel 'Zero' zurück auf die Seite gestellt. Diese Abfolge von Veröffentlichung, Rezeption und Übersetzung und Wiederveröffentlichung bzw. Produktion, Konsum und Reproduktion durch den Konsumenten ist nur in den sozialen Medien möglich, und die assamesische Dichtung profitiert davon. Die ersten Verse des ursprünglichen Gedichts (in römischen Buchstaben) und die Übersetzung lauteten wie folgt:

Sunya keval sunya nohoy
Sunya eku noholeu eta xabda
Jak suna jay
Aru
Eko noholeu akhoror sin
Jak dekha jay


Zero is not mere zero
Zero is at least a sound
That can be heard
And
If nothing else
A symbol of alphabet
That can be seen

(Englische Übersetzung: Bibekananda Choudhury )

Null ist nicht nur Null
Null ist immerhin ein Klang
Den man hören kann
Und
Wenn auch sonst nichts
Ein Zeichen des Alphabets
Das man sehen kann.

In den sozialen Medien bewegen sich Gedichte in einem Meer von Kontext und Intertext, vor allem auf den persönlichen Seiten von Autoren. Der Leser hat Zugang zu den sozialen Kontakten und zum privaten Leben des Dichters, kennt seine politischen und sozialen Neigungen und ist eingeweiht in andere Texte und Persönlichkeiten, die der Schriftsteller mag oder denen er folgt. Der kontextreiche Charakter von Lyrik in den sozialen Medien impliziert, dass Werke, die dort publiziert werden, niemals isoliert gelesen werden können, vor allem mit der Einstellung "Scroll View" in allen sozialen Medien und auf den meisten neuen Webseiten, was uns ermöglicht, endlos weiterzublättern. Ein Beispiel dafür sind die Werke von Ashwini Phukon and Kukil Saikia. Beide Autoren studieren noch an einer hiesigen Universität. Ihre Facebook-Seiten, die täglich aktualisiert werden, enthalten Fotos aus dem Studentenleben, witzige Bemerkungen in Versform, geteilte Artikel und Videos, Rezensionen ihrer Gedichte usw. Die meisten Leseproben werden von einem kurzen Gedicht begleitet, das vom Leser als Antwort verfasst wurde. Kukil Saikia hat kürzlich seinen ersten Gedichtband unter dem Titel ‘Xui Thaka Shororkhonok Jogai Diya’ veröffentlicht, was so viel bedeutet wie 'Erwecke die schlafende Stadt'. Als ich sein Facebook-Profil durchblätterte stieß ich auf ein interessantes Foto: vier Verse seines Gedichts 'Bulbuli', in roter Tinte in ein liniertes Notizbuch geschrieben. Die Verse lauten übersetzt wie folgt:

Sans intoxication everything is an illusion
Intoxication is why
The days we live are called
Life


Ohne Rausch ist alles eine Illusion
Der Rausch ist der Grund weshalb
Die Tage, an denen wir leben,
Leben heißen

Nachdem ich zehn Minuten weitergeblättert hatte, las ich immer noch Kommentare zu seinem neuen Buch. Jeder zweite Kommentar enthielt eine Abbildung des Buchumschlags. Facebook hat Fangemeinden verändert, und Dichter, die über den Tod von Dichtung klagen sollten sich einmal die Profile von Autoren, die in 'regionalen' Sprachen schreiben, in den sozialen Medien anschauen. Dann wüssten sie, dass Dichter hier immer noch Rockstars sind.

Ein anderes neues Genre, das von den sozialen Medien profitiert, ist die multitextuelle Dichtung. Der bekannteste Vertreter dieses Genres in Assam ist Samudra Kajal Saikia, dessen Gedichte entweder als getippter Text veröffentlicht werden, oder als Multimedia Fotos, Fotos von Installationen, Multimedia-Videos etc. In seinen Büchern ‘Disposable Sun and Other Poems’ und ‘Disposable Sun and Other Sonnets’ spielt er mit Sprache und Stil, und kreiert Gedichte aus gefundenen Texten, mitgehörten Unterhaltungen und anderen weggeworfenen Textfragmenten. Das Ergebnis ist ein sehr eigener, skurriler Stil und ein noch skurrileres Vokabular. Damit wird die Facebook-Seite zu einem sehr geeigneten Medium für seine Gedichte, einer Plattform, auf der seine bildlichen Werke und seine Texte zusammenlaufen.

Die Demokratisierung von Dichtung in den sozialen Medien ermöglicht den Gebrauch von Sprachen und Registern, die üblicherweise nicht als Hochassamesisch gelten. Gedichte in anderen assamesischen Dialekten werden schon seit geraumer Zeit gedruckt, aber die sozialen Medien haben ein neues, hippes Publikum geschaffen. Uddipta Kumar Bhattacharyya (der auch als Regisseur und Cutter arbeitet) und Kazi Neel (der nebenberuflich fotografiert) experimentieren mit Dialekten, die in West-Assam gesprochen werden, schreiben aber gleichzeitig auf Hochassamesisch. Bhattacharyyas Wiegenlied ‘Sana apa’ (süßes Kind) verwendet zum Beispiel die gesprochene Sprache (‘kothito bhasa’), für die es weder eine Schrift noch eine festgelegte Grammatik gibt, um die zärtlichen Gefühle einer Mutter zu beschreiben, die ihr Kind beim Abendessen dazu überredet, aufzuessen:

Etu hathir dima, etu rajar dima
De bhat kha sana apa

Here’s an elephant’s egg, here’s a king’s egg
Now eat, my sweet child.

(Translated by Shalim M Hussain)

Hier ist ein Elephantenei, und hier ein Königsei,
Nun iss, mein süßes Kind.

In den Gedichten von Kazi Neel wird die Verwendung des Dialekts zum Ausdruck der Rebellion gegen die Beschränkungen der hohen Sprachen. In seinem Gedicht 'Jodi shob bhasa haraiya jay' (‘Wenn alle Sprachen verloren gegangen sind'), schreibt er:

Jodi shob bhasa haraiya jay duniya thika
Jodi thaima jay kalam
Bhalobashar kotha ki ami komuna, kou?
Ami ki komuna ei nirab dukher kotha?
Anya kunu aadim bhasay?


If all languages are lost
And if my pen stops
Tell me, will I stop talking about love
Will I stop talking about my silent sorrow
(In another ancient tongue? (Translated by Shalim M Hussain)

Wenn alle Sprachen verloren gegangen sind
Und wenn mein Stift aufhört (zu schreiben),
Sag mir, werde ich aufhören, von der Liebe zu sprechen
Werde ich aufhören, über meinen stillen Kummer zu sprechen
In einer anderen alten Sprache
?

Es ist nur folgerichtig, dass solche Gedichte zuerst in den sozialen Medien, auf den persönlichen Seiten von Autoren, veröffentlicht werden -- unverändert durch die Eingriffe von Herausgebern und im unmittelbaren Kontext des persönlichen Lebens des Dichters bzw. der Dichterin. Dichtung ist sowohl individualistisch als auch sozial, und deshalb sind die sozialen Medien genau der richtige Ort dafür.

Shalim M Hussain, ist Schriftsteller, Übersetzer und Forscher. Derzeit promoviert er an der englischen Fakultät Jamia Millia Islamia, wo er an der literarischen Ästhetik der Assamesen arbeitet. Sein erstes Gedichtbuch, Betelnut City, gewann 2017 den R L Poetry Award (Editor's Choice). Derzeit arbeitet er an einem Reisebericht mit Sitz in Assam.
Shalim M Hussain
Übersetzung: Claudia Richter