Chronik

Dhaka Encounter - Drei Dichter, zwei Sprachen, ein Übersetzer

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Munem WasifFoto: Goethe-Institut / Munem Wasif

Bei der zweiten Begegnung von Poets Translating Poets treffen zwei Dichter aus Bangladesch, ein deutscher Dichter und ein Übersetzer aus Indien aufeinander, um kulturelle Kontexte und Kreativität in die jeweils andere Sprache zu übertragen.


Ein Hup- und Klingelkonzert, veranstaltet von Autos und Fahrrädern, ertönt in den Strassen von Dhaka, als Hendrik Jackson sein Aufnahmegerät aus der Tasche holt, um das Leben einzufangen. Jackson - ein hochgewachsener, deutscher Poet mit Brille und Baseball-Mütze - quetscht sich in eine von Bangladeschs unzähligen Fahrradrikschas, sichtlich amüsiert und erstaunt über seine neue Umgebung. Als man ihn auf seine Heimatstadt anspricht, verrät er: „Die Gedichte in Dhaka vorzulesen ist etwas völlig anderes. In Berlin lese ich sie philosophisch, hier eher physisch.“ Und es ist die schiere „Körperlichkeit“ der Interlinear-Übersetzung - eine wörtliche Rohübersetzung mit Erläuterungen und Begriffsbestimmungen - die dieses ambitionierte Mammutprojekt Poets Translating Poets ein Jahr lang bestimmen wird. Achtundvierzig südasiatische und deutsche Dichter aus insgesamt 19 Sprachen treffen insgesamt achtmal in vier Ländern aufeinander, ohne die jeweils andere Sprache zu kennen. Wie soll das gehen, wird man fragen. Mittels der interlinearen Übersetzungsmethode, mit der zunächst wörtliche Übersetzungen der Gedichte angefertigt werden. Danach treffen sich die Dichter zu arbeitsintensiven Workshops und übersetzen die Gedichte zurück.

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Hendrik wird fünf Tage lang von zwei bengalischen Dichtern und einem bengalischen Übersetzer in Dhaka begleitet. Das Team besteht neben Jackson aus Sajjad Sharif, einem Journalisten und Dichter, der Dichterin und Journalistin Shahnaz Munni, und dem Interlinear-Übersetzer Partha Chattopadhyay aus Kolkata. Gemeinsam werden sie die poetischen Übersetzungen anfertigen.

 

Das Projekt

Poets Translating Poets wurde im Juli 2015 vom Goethe-Institut in Mumbai, Indien initiiert und konzipiert in Kooperation mit der Literaturwerkstatt Berlin und Deutsche UNESCO. Ziel ist, eine gemeinsame Übersetzungsplattform für Dichter aus Südasien und Deutschland zu schaffen. Zeitgenössische Dichtung aus Bangladesch, Pakistan, Indien und Sri Lanka wird von namhaften Autoren ins Deutsche übertragen. Im Gegenzug wird deutsche Dichtung in südasiatische Sprachen übersetzt. Dadurch, dass 19 Sprachen involviert sind und literarische Begegnungen an verschiedenen Orten in Südasien stattfinden, entstehen neue literarische Netzwerke, werden neue Türen zum Verständnis der jeweils anderen Kultur geöffnet. Die unterschiedlichen Stränge des Projekts laufen in einer Website zusammen, die die Abläufe dokumentiert. Es wird Lesungen, Literaturfestivals, Buchmessen und Veranstaltungen auf dem Subkontinent und in Deutschland geben.

Eine Besonderheit dabei ist, dass Dichter ihre Werke gegenseitig übersetzen ohne mit der jeweils anderen Sprache vertraut zu sein. Bewerkstelligt wird dies mithilfe der interlinearen Übersetzungsmethode, die von der Literaturwerkstatt Berlin vor fast 10 Jahren zum ersten Mal eingesetzt wurde, um den sprachlichen Reichtum nicht-deutscher Dichtung adäquat zu erfassen. Eine Interlinear-Übersetzung besteht aus a) einer Wort-für-Wort Übersetzung des Gedichts; b) einer Übersetzung, die semantische und grammatische Fragen klärt; und c) einer Übersetzung, die die kulturspezifische und historische Bedeutung eines Wortes und hervorstechende grammatikalische Eigenschaften erläutert. Ein Übersetzungsexperiment dieser Art könnte unter anderem zur Herausbildung eines ungeahnten literarischen Netzwerkes und zur Verbreitung von Werken fernab der Kulturen, in denen sie ursprünglich entstanden sind, führen.

 

Der Ablauf

Zur Vorbereitung auf die Begegnung in Dhaka hatten die Dichter sich bereits vor einigen Monaten jeweils vier Gedichte zugesandt. Diese wurden mit der Interlinear-Methode ins Bangla und ins Deutsche übersetzt und den Autoren einen Tag vor dem Treffen in Dhaka vorgelegt. Sie verbrachten die nächsten fünf Tage damit, die Werke in Gegenwart ihrer Kollegen rückzuübersetzen. Man fand an einem strengen, weißen Arbeitstisch zusammen, der übersät war von Zetteln, Büchern und Bengalisch-Deutschen Wörterbüchern. Hier erschlossen sich Hintergründe, wurden Begriffe aufgebrochen, Sprachbilder visualisiert und neue Einsichten gewonnen.

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Ein Schlüsselelement dabei ist immer die Teamarbeit - Partha erstellt die Interlinear-Übersetzung, die Dichter versuchen, jede Zeile rückzuübersetzen und holen Parthas Rat ein wenn es Verständnisschwierigkeiten gibt. Oft teilt sich die Gruppe in Zweiergruppen auf, wo jede Autorität von Lorca bis Saussure herangezogen wird, um Kontexte zu entschlüsseln und zu begreifen. Dadurch, dass sich alle an der Diskussion beteiligen, entsteht mehr Klarheit. In seinem Gedicht Riff-Raff zitiert Hendrik zum Beispiel einen Vers aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Der veraltete Begriff „kroppzeug“ wird heute kaum noch verwendet (er bedeutet wörtlich so viel wie „Staub“, nicht Abfall?). Die Klärung des Wortes entfesselte eine lebhafte Debatte zwischen Shahnaz, Partho und Hendrik. Die Vorgehensweise ist auch deshalb einzigartig, weil sich die zwei Urheber in ein und demselben Raum befinden. Sie bietet jedem Autor die Möglichkeit, mit dem Übersetzer zu verhandeln, und jedes Wort bzw. dessen Anwendung und Hintergrund noch einmal ganz genau zu durchdenken. Das Wort nirucchar (in Sajjids Gedicht About the discourse beyond) bedeutet unausgesprochen bzw. etwas, das bisher noch nicht in Worte gefasst wurde/ unausgesprochen geblieben ist. Sajjad und Partha erklären Hendrik die Wortbedeutung in allen Einzelheiten, dabei werden verschiedene Anwendungsmöglichkeiten ausprobiert. Sajjad, der viel Übersetzungserfahrung hat, sagt dazu: „Wenn man das Werk eines anderen Autors übersetzt, bekommt man eine vage Vorstellung von dem Hintergrund, vor dem das Gedicht geschrieben wurde, und dann war’s das. Hier entdecke ich langsam den Menschen hinter dem Gedicht. Es ist wie wenn man in die Haut des anderen, in sein Denken hineinschlüpft“. Der Prozess ist vielschichtig und geht tief.

Kontext

Hendrik ist zum ersten Mal in Asien, vor seiner Reise hatte er mit der Region oder Sprache wenig zu tun. Allerdings begegnet man in Dhaka auf Schritt und Tritt spanischen und italienischen Wörtern - zum Beispiel auf Plakaten, die auf Wohnkomplexen und Hochhäusern prangen. Shahnaz erklärt: „Deutsche, spanische, und italienische Werke sind uns in Übersetzung zugänglich - die kulturellen Hintergründe und Zusammenhänge sind uns also nicht ganz fremd. Aber Dichtung ist nochmal was anderes.“
Mangelnde Sprachkenntnis bringt auch das Problem mit sich, dass man die Weltanschauung einer Kultur und ihr Selbstverständnis als Nation nicht kennt. Hendrik brachte diesen Punkt bei der Übersetzung eines Gedichtes von Shahnaz zur Sprache. Es ging wieder um Kontexte bzw. Hintergründe: „Ihr habt sechs Jahreszeiten, wir haben vier. Wie ich Deine Gedichte übersetzen soll, ohne dass es das Publikum als fremd oder exotisierend empfindet, das muss ich noch herausfinden.“ Er entschied sich schließlich für das Wort „Monsun“. Später meinte Hendrik: „Der Übersetzer muss eine Balance finden. Man muss sich bewusst zurücknehmen und es vermeiden, zu exotisieren. Als Übersetzer bezieht man laufend einen Standpunkt.“

Shahnaz hingegen hat bisher noch keine Texte übersetzt, für sie ist es eine ganz neue Erfahrung. Für sie geht es dabei vor allem um die Kommunikation bzw. den Austausch von Gefühlen. Sie hat Hendriks neues Gedicht über seinen Sohn übersetzt, es erschien ihr genau so „sentimental wie ein Großteil bengalischer Dichtung.“ Sie erklärt, „Bei der Übersetzung von Hendriks Gedichten habe ich auch versucht, seine Gefühle und seinen Ausdruck als Dichter zu verstehen… Ich habe alles auf mich wirken lassen anstatt mich auf den reinen Wortsinn zu verlassen.“ In Übersetzungen entdeckten sie Gemeinsamkeiten; die andere Kultur erschien nicht mehr so fremd.

Eine weitere Komplexität beim Übersetzen von Kontexten kam im Gespräch zwischen Sajjad und Hendrik zur Sprache. Es ging dabei um eines von Sajjads schonungsloseren Gedichten mit dem Titel Knife-Surgery (ehemals „Operation“ betitelt). Sajjad erläuterte die formalen Eigenschaften des Gedichts: er hatte absichtlich eine sanft klingende, metrische Form, die gerne bei Liebesgedichten verwendet wird, für dieses unromantische Gedicht gewählt, in dem es um aktuelle Ereignisse und Zustände in Bangladesch seit den Befreiungskriegen geht. Daraus entwickelte sich eine Diskussion über die sprachliche Form bei Gedichten, wie z.B. die Betonung von Wörtern oder den Gebrauch von Akzenten, und über die Frage, inwiefern formale Eigenschaften auch einen Teil der Kultur abbilden, über die man schreibt.

Übersetzer

Der Interlinear-Übersetzer spielt vielleicht die Schlüsselrolle in diesem Prozess. Durch sie/ihn wird er erst klarer, der Text gewinnt an Qualität, und die Dichter lernen ihren jeweiligen kulturellen Hintergrund kennen und schätzen. Aber das Ganze ist auch mit Herausforderungen verbunden. Beim Treffen in Dhaka erläutert Partha den Zwiespalt, in dem sich der Übersetzer befindet. Sein eigener kreativer Impuls steht dem Zwang, objektiv zu sein, gegenüber. Er muss sich in den Dichter hineinversetzen aber dabei seine eigene Stimme so weit wie möglich heraushalten. Partha: „Dichter schaffen ihre jeweils eigene Sprache innerhalb der Sprache eines Gedichts. Es war spannend, sich in das Denken eines anderen Dichters hineinzuversetzen, aber ich musste der Versuchung widerstehen, poetisch zu übersetzen, und mich stattdessen auf die wörtliche Bedeutung konzentrieren.“

Ein englisches Gedicht von Wentworth Dillon, dem 4. Grafen von Roscommon (16. Jahrhundert), selbst Dichter und Übersetzer, schildert das Dilemma:

’S ist wahr, wer dichtet führt die edlere Feder
Übersetzen aber kann auch nicht jeder,
Der Stoff, der ist zwar längst gefunden,
Doch Sinn und Händ' sind Dir gebunden,
Beim Nachdichten von Worten, die ein andrer verfasst,
Erfindungsreichtum hinter Urteil verblasst.

Der Dichter schreibt, wie’s ihm gegeben,
Er lobt oder lehrt oder hält dagegen.
Horaz wollte niemals Episches dichten,
Der hehre Maro Lyrik mitnichten,
Finde heraus, welche Säfte Dein Gemüt dominieren,
Und welche Leidenschaften Dein Herz regieren.


Dann such’ einen Dichter, der so ist wie Du,
Wähl’ ihn mit Sorgfalt, als suchtest Du einen Freund.
Geeint durch das Band der Sympathie,
Wachsen Vertrauen, Nähe und Zuneigung.
In Denken und Stil, in Wort und Seele, werdet eins,
Du bist nicht länger der Übersetzer, sondern er selbst.

Partha kennt dieses Problem nur zu gut: die Schwierigkeit, der Stimme des Dichters gerecht zu werden. Und er erkennt, dass die Interlinear-Methode mit ihrer dreifach gefilterten Übertragung eine ganz andere Art des Übersetzens ist. „Am Anfang steht der Schöpfungsakt des Dichters, der seine Gedanken in Sprache übersetzt und zu Papier bringt, an zweiter Stelle folgt meine Rolle als Interlinear-Übersetzer und an dritter dann steht der andere Dichter, der auf der Grundlage meiner Übersetzung und Interpretation des Originaltextes dann seine Übersetzung anfertigt. Das ist Übersetzung in der dritten Generation“, meint Partha.

Reflexionen

Bei den Treffen wurde mit Worten gerungen, vieles wurde auf dem Papier ausgefochten. Die meisten Kämpfe fanden jedoch innerlich statt. Auf dem Rückweg von der Bangla Academy (Bangladeschs nationales Sprachinstitut) reflektierte Sajjad die eigene intime Beziehung zu seiner Muttersprache. „Der interlineare Übersetzungsprozess, also das Erleben meiner eigenen Sprache durch eine andere, brachte mich zum Nachdenken über deren Beschaffenheit, die Grammatik, ihren Klang und die Form der Wörter, die Struktur, die letztlich mein Denken und mein Verhältnis zur Welt bestimmen.“ Hendrik machte sich auch über Sprache Gedanken aber mehr noch darüber, wie sich das Gedicht selbst im Laufe dieses komplexen Kommunikationsvorgangs wandelt. „Wenn ich meine Gedanken zur deutschen Übersetzung äußere, dann haue ich etwas raus - und dabei gewinnt das Gedicht etwas hinzu.“ Einerseits ist es zwar eine Übersetzung… andererseits entsteht auch ein neues Werk für ein neues Publikum. Abschluss der „Begegnung“

Am 5. Tag war eine öffentliche Präsentation geplant. In einer stillen Minute bei einem Glas Tee am Morgen erklärte Partha, wie der Begriff „encounter/Begegnung“ tatsächlich in allen Facetten zum Tragen kam. „Das Wort ‚encounter/Begegnung’ kann vieles bedeuten - ein verabredetes Treffen, eine zufällige Begegnung, Widerstand und sogar eine militärische Begegnung. Man musste manövrieren, schlug dem anderen das passende Wort vor und versuchte ihn/sie von seiner/ihrer Übersetzung zu überzeugen. So gesehen haben wir in den letzten fünf Tagen die ‚Begegnung‘ in ihrer ganzen Bedeutungsvielfalt erlebt.“ Das Ergebnis blieb abzuwarten.

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Munem WasifFoto: Goethe-Institut / Munem Wasif
Gegen 19 Uhr tröpfelten langsam die Zuschauer langsam herein. Draußen war der Verkehr noch chaotischer als sonst, weil ein Studentenprotest gegen eine neue Steuer für private Universitäten die Straßen blockierte. Im Gebäude wollte man endlich anfangen: Einführungen wurden gemacht, Hintergründe erläutert, Abläufe beschrieben und schließlich wurden auch die Gedichte vorgelesen. Eins nach dem anderen wurde einem stillen Publikum jedes sorgfältig gemeißelte Gedicht samt Übersetzung auf wohlgeordnetem Papier vorgetragen. Es waren dieselben Gedichte, aber sie klangen anders. An manchen Stellen klangen die Worte härter, wo sie hätten sanfter sein sollen. Silben, die eigentlich tanzen wollten, mussten stillhalten. Die Gedanken der Autoren wurden vorgelesen und im Geist aufgenommen von jenen, die ihre Welt in anderen Worten beschrieben sahen, in der Hoffnung, dass ihre Gedanken und Worte in einer neuen Sprache neue Bilder von neuen Kulturen entstehen lassen würden.
Rashmi Dhanwani
Übersetzung : Claudia Richter