Reportagen aus Südasien

Zwischen den Zeilen – Reflexionen an den Schnittpunkten

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Soumya Sankar Bose Foto: Goethe-Institut / Soumya Sankar Bose

Jene Stadt, die Günter Grass einst “radikal verwandelte“ war im Januar die Gastgeberin für zwei weitere Lyriker aus Deutschland. Unter Beteiligung von bengalischen und odia’schen Dichtern vor Ort hinterfragte der in Kolkata stattfindende Teil des Poets Translating Poets-Projekts viele vermeintlich gegebene Grenzen, berichtet Rashmi Dhanwani.

Für den gefeierten deutschen Lyriker Jan Wagner war die Einladung zum Dichtertreffen in Kolkata, die ihm per Mail von der Literaturwerkstatt in Berlin zuging, ein “wahrgewordener Kindheitstraum”. Vielleicht wegen Günter Grass, vielleicht aufgrund anderer kultureller Bezüge, Jan zeigte sich jedenfalls freudig erregt. Dies sollte nicht einfach eine gewöhnliche Begegnung zwischen zwei einander fremden Kulturen werden – das Treffen sollte eine neue Kultur hervorbringen, um so in Schlupfwinkeln die eigene Heimat zu entdecken. Hier eine warmherzige Vertrautheit der Muster, dort eine überraschende Rätselhaftigkeit der Unterschiede – beides artikulierten die beteiligten Dichter aus dem Alkoven eines gegenseitigen Vertrauens und Respekts.

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Sie alle brachten ihre vernehmlichen eigenen Hintergründe und Vorstellungswelten mit. Die deutsche Lyrikerin Anja Utler stammt aus Regensburg und Wien, wo sie lebt und arbeitet. Yashodhara ist im im öffentlichen Dienst tätig, eine Staatsangestellte, die Zahlen und Wörter unter einen Hut bringt (“Ich schreibe frühmorgens Gedichte und abends, wenn ich von der Arbeit heimgekommen bin.”). Jan Wagner lebt und arbeitet in Berlin, ist Lyriker, freiberuflicher Autor, Herausgeber und Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen. In Deutschland für seine Lyrik gefeiert, erhielt Jan den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Literatur für seine Gedichtsammlung Regentonnenvariationen. Verliehen wurde der Preis überhaupt zum ersten Mal für ein lyrisches Werk. Basudev Sunani stammt aus dem abgelegenen Dorf Maniguda, im Bezirk Nuapada, Odisha (auch als Orissa bekannt), und steht für eine mächtige, deutliche und engagierte Dalit-Präsenz in der Welt der Odia-Verse. Kedar Mishra, der zweite Odia unter den Teilnehmern, ist ein hochgeschätzter Dichter und Journalist, der über eine Vielzahl von Themen von Politik bis zu klassischen Tanz und Musik schreibt. Sumanta Mukhopadhyay, Student des Bengalischen und Vergleichender Literaturwissenschaft, ist Dichter und von Beruf Lehrer. Seine Gedichte konzentrieren sich auf eine Sprache des Schweigens, die die Agonie seiner Landsleute und seines Landes behandeln. Sie alle gemeinsam repräsentierten ein reiches Tableau von Leidenschaften und Erfahrungen, deren jeweiligen Kontexte von den drei Interlinearübersetzern vermittelt wurden.

Der in Kolkata ansässige Interlinearübersetzer Partha Chattopadhyay ist gleichzeitig Leiter der Bibliothek des Goethe-Instituts in der Stadt. Er war mit dem Format des PTP-Workshops bereits vertraut, denn er hatte bereits während des zweiten Dichtertreffens in Dhaka/Bangladesh Gedichte des deutschen Dichters Hendrik Jackson und der Bangla-Dichter Sajjad Sharif und Shahnaz Munni übersetzt. Subroto Saha ist Lehrer und Ausbildungsleiter am Goethe-Institut Kolkata, Dusmanta Chakra unterrichtet Sprachschüler am Goethe-Institut Pune.

Sie alle ließen sich gemeinsam auf fünf intensive Tage ein – mit Spaziergängen am Hoogly entlang, einem Besuch des Kali-Tempels, Buchkäufen in Kolkatas berühmter College Street, der Adda-Kultur im India Coffee House und – als Höhepunkt – der Lesung ihrer Gedichte im vertrauten Kreis im Rahmen der Tata Steel Kolkata Literary Meet an der kieselstein-gesäumten, majestätischen Victoria Memorial Quadrangle. In zarter Weise berührt von den unter ihnen sich ergebenen ungewöhnlichen Verbindungen kamen die Dichter einander näher.

Mitteilungen über die Vergangenheit

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Am ersten Tag trafen sich die Dichter und Übersetzer und stellen sich einander vor. Anschließend trugen sie sich gegenseitig ihre Gedichte vor – “für die Dichter ein sehr wichtiger Teil des Prozesses,” so Partha, da dies ihre erste Begegnung mit der fremden Sprache darstellt. Anja erklärte es mir abends so: "Bei den meisten Übersetzungen, die mir begegnet sind, konnte ich zumindest die Schriftsprache verstehen und mir die Bedeutung der fremden Elemente onomatopoietisch erschließen. In diesem Fall war für mich das bengalische oder odia’sche Alphabet völlig unverständlich.” Und eben hier kam somit anderen Bezügen ihre Bedeutung als Kontext zu, wie beispielsweise den eingearbeiteten Mythen und Epen.

Mythologie ist uraltes Wissen in erzählter Form. Sie schafft ein verstopftes Reservoir von Lehren über das Leben, angefüllt von einer Geschichte – und wird manchmal dazu genutzt, Gegenwärtiges zum Ausdruck zu bringen. Während des Workshops in Kolkata diente Geschichte dazu, die Rätsel des modernen Zeitalters zu reflektieren. Anja nahm Bezug auf die Geschichte von der Nymphe Daphne und dem mächtigen Gott Apollo aus der griechischen Mythologie. Daphne, der Apollo nachstellt, sucht bei ihrem Vater, dem Flussgott Landon, Hilfe. Dieser verwandelt sie in einen Lorbeerbaum. Anjas Gedicht stellt sein Handeln in Frage, denn sie sieht darin einen Akt der Strafe, nicht Grund für Jubel. Sie verwendet den Mythos, um über die Entscheidungen der Gegenwart zu sprechen, und nimmt dabei eine weibliche Perspektive ein. Ganz ähnlich wie Sumanta, die ihre Inspiration für zwei ihrer Gedichte mit den Titeln Dharma und Mahabharat dem Mahabharata entnahm, bezieht sich auch Basudev auf alte Volkserzählungen der Odia, die im Allgemeinen in der indischen Erzähltradition übergangen werden, weil verdrängt von den Epen Ramayana und Mahabharata.

Diese Idiome, Geschichten und Wörter beschwören die Musiker, Götter, Volkshelden, um der Gegenwart Bedeutung zu geben, berühren dabei manchmal die Vergangenheit ganz leicht wie eine Tangente das Rad der Zeit. Wie Kedar, der einen Anklang davon in Anjas Daphne entdeckte. “Unsere odia’sche Erzählung der Chandrabhaga von Kabibara Radhanath Ray erzählt von einer ganz ähnlichen Begebenheit,” erläuterte er. Es ist eine von vielen Legenden, die mit dem prächtigen Sonnentempel von Konark verbunden sind.

Wie die Dichter mit Übersetzungen umgehen

Durch Mythen und die epischen Kontexte als Bausteine, durch Fragen und das Entwerfen eigener Übersetzungswege stellt jeder der Lyriker einen Zugang zur eigenen Eigenartigkeit her. Ein Gedicht muss für Sumanta “zuallererst wie ein Gedicht klingen”. Also sucht er nach der ‘Vershaftigkeit’, dem Reimschema, der Grundstruktur. “Ich möchte sehen, wohin das Gedicht springt, wo die Betonungen liegen und was es unterstreicht.” Sumanta ist der Ansicht, dass eben dies (die Betonungen, die Hervorhebungen) einen der Hauptunterschiede zur deutschen Lyrik ausmacht – die indische Poesie sei meist zeitgebunden, nicht so sehr auf Betonungen und Hervorhebungen aus. "Wenn man den Puls des Gedichtes erspüren will, muss man sich den Vers anschauen – um ins Bewusstsein des Dichters einzudringen, um zu erkennen, was ihn erhebt und ihn zum Gedicht hinführt,” erklärt er.
Kedar hingegen bot einen ganz anderen Ansatz, um zum “Zugangspunkt” jedes einzelnen Gedichts zu gelangen. Jans Gedichte waren für ihn leicht nachvollziehbar, Antjes hingegen gar nicht. “Anjas Gedichte sind melodisch, besitzen einen verborgenen Raag,” was Kedar doch einen Zugang zu ihren Arbeiten gab. Eine Beobachtung, die so ähnlich auch Alexander Gumz machte, der 2004 in einem Beitrag über Anjas Lyrik schrieb, diese sei “eine präzise Notation zwischen Partitur und Lesetext, Sprache und Musik. Semantik, Syntax und rhythmische Form ergeben eine einzigartige Einheit.” Kedar verglich ihr Werk mit Basudevs Lyrik, die modernistisch ist, anti-romantisch und unmusikalisch, was zu einer interessanten spielerischen Herausforderung führte. “Anja brauchte vier Stunden, um eines von Basudevs Gedichten zu übersetzen,” beobachtete er.

Seine gewonnenen Einsichten nutzte Kedar, um den eigenen Übersetzungsvorgang zu verfeinern. Er schaut auf die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen dem neuen Gedicht und seinem eigenen Kontext, fügt dann er kulturelle Kontexte und geographische Dynamiken hinzu, während er übersetzt.

Es gibt etwas Kleines, das nicht vollständig übersetzbar ist, da es gar nicht wirklich zum Original gehört. “Es gibt einen Übertragungsverlust im Prozess, doch meine Aufgabe ist es, diesen Übertragungsverlust so weit wie möglich zu minimieren.” gibt Kendar zu. Es ist ein Prozess, den auch Basudev anmahnt. Die größte Herausforderung besteht für ihn im Übersetzungsprozess darin, die angemessenen Worte zu finden. Das stellt für ihn die Wurzel und die Lösung für alle Übersetzungsrätsel dar. “Shabd agar siddha ho gayi, toh kabita ban jati hai. Kabita siddha ho gayi, toh mantra ban jata hai („Der Gebrauch des perfekten Wortes erzeugt erleuchtete Dichtung und der Gebrauch von perfekter, erleuchteter Dichtung erzeugt ein Mantra“)”, sprach er seine Überzeugung philosophisch aus.

Yashodhara hingegen arbeitete mit einem kleineren Vorrat, da sie nur das ein Langgedicht von Anja übersetzte. Für sie war die Übersetzung dieses Gedichts eine Herausforderung und sie fand nicht sogleich einen sich aus den grammatischen Entscheidungen und der Zeichensetzung der Lyrikerin ergebenen Ansatzpunkt. Sie erläutert: “Die Zeichensetzung verliert in Anjas Gedichten ihren ursprünglichen Sinn, da sie sie so einsetzt, dass ihr eine andere Bedeutung zukommt. Sie bricht andauernd die Regeln der Sprache, die ich nicht einmal kenne. Also muss ich zugleich Ihre Sprache und ihre Herausforderung an die Sprache übersetzen.” Das ist ein langwieriger Vorgang – erst am dritten Tag des Workshops hatte sie Anjas Gedicht verstanden, um die richtigen Verbindungen herstellen zu können.

Für Anja und Jan war das, was sie kennenlernten, eine Begegnung mit völlig andersartigen Kontexten, Sprachen und Stilarten. Sie konnten sich in erster Linie auf nichts als Klang- und Sprachstrukturen beziehen – “wie sie ihre Sätze bilden,” wie Anja erklärte. Jan erwähnte jene Wahl, die ein Übersetzer zu treffen hat: “Trägt man das Gedicht zum Leser oder den Leser zum Gedicht? Ich für meinen Teil bringe ein Gedicht zu einem Gedicht,” so seine Feststellung. Er erklärte, dass trotz der Masse an wissenschaftlicher Literatur zu Problemen und Herausforderungen des Übersetzens ein grundsätzliches Problem bleibe. “Man ist freier und dabei doch nie enger an das gebunden, was der Dichter sagen will. Es ist eine zweischneidige Sache. Gebunden zu sein von absoluter Fremdheit wie von Vertrautheit – dies erzeugt eine interessante Spannung,” schlussfolgerte er.

Über das Übersetzt-Werden

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Dichter wie Übersetzer zeigten sich von den ihre Arbeit umgebenden Fragefeldern gleichermaßen angesprochen. Yashodhara sah darin eine Gelegenheit, wieder aufs Neue die vor einigen Jahren bereits in ihren Gedichten getroffenen Entscheidungen zu bedenken und die Wahl ihrer Worte zu reflektieren. "Ich fange an zu verstehen, warum ich Worte auf eine bestimmte Weise verwendet und welche Verbindungen ich beim Schreiben hergestellt habe. Es ist, als würde ich meine eigenen Gedichte wie ein Gast besuchen." Yashodhara wie auch Basudev fanden sich zum ersten Mal in einer solchen Art und Weise übersetzt.

Zu denjenigen, die entweder bereits Erfahrungen mit einem solchen Austauschvorgang oder aber zuvor einer solchen sich während des Übersetzungsworkshops ergebenen Dynamik noch nicht ausgesetzt gewesen waren, zählten auch die Interlinearübersetzer. Subroto beispielsweise übersetzt regelmäßig deutsche Lyriker ins Benaglische, darunter auch Gegenwartsautoren wie Ulf Stolterfohrt und Tom Schulz. Während der meisten Übersetzungen ergibt sich mit den jeweiligen Lyrikern ein Austausch per Mail, wohingegen hier die Möglichkeit bestand, direkt bei den Dichtern nachzufragen. Zudem waren es an die Dichter gerichteten Fragen der anderen Dichter, die den Übertragungsvorgang eine neu Perspektive gaben. “Die Fragen der übersetzten Dichter haben mir geholfen, meine Fragen anders zu stellen. Dichter betrachten die Übersetzungsaufgabe ganz anders als herkömmliche Übersetzer,” erläutert er und mahnt für eine gelungene Übersetzungspraxis auch den Gebrauch jener kreativen Freiheiten an, die die Dichter selbst in einem solchen Prozess finden.

Sumanta empfand das Übersetzt-Werden hingegen auch als langwierig. "Manchmal fühlte es sich an, als würde mein Gedicht getötet,” scherzt er. Doch spricht auch er über besondere Verbindungen, die sich einstellten. “In einem einzigen Gedicht spreche ich Tausende von Sachen an. Als Jan mein Gedicht verstand – da verstand er mich.“

Das sieht auch Kedar so. An einem der Tage liefen morgens einige der Teilnehmer des Workshops gemeinsam den Ganges entlang. Kedar war nicht dabei. Er erzählte Jan dann später, als er erklärte, warum er nicht mitgekommen war, dass es bei ihm zu Hause einen ebenso gewaltigen Fluss gebe, an dessen Ufern er oft spazieren gehe – ein Fluss, in den zwei Flüsse einmünden (er sprach vom Mahanadi, in dem zwei Nebenflüsse zusammenlaufen). Darauf antwortet Jan: “Oh, den Fluss kenne ich. Den habe ich in Deinem Gedicht gesehen.” Kedar war hocherfreut, mit dieser Bemerkung trotz der gegebenen großen kulturellen Unterschiede “verstanden” worden zu sein und seine Welt in eine andere Welt hinüber getragen zu haben – seinen Fluss in die Einbildungskraft eines anderen.

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Am letzten Abend saßen die Dichter im Schatten des grandiosen Victoria Memorial, während die untergehende Sonne die griechischen Säulen akzentuierte, und trugen ihre Gedichte vor. Dabei entstand aus diesen eine andere Welt, bestehend aus zahllosen Vorstellungen und Gefühlen – wie eine Reise oder Wurzeln, Bedeutungen und Mantras.
Rashmi Dhanwani
Übersetzung : Nils Plath