Die neue Hauptstadt

Die neue Hauptstadt:
Deutschsprachiges Erbe in Ankara

Revolutionen und Neugründungen von Staaten ziehen umfassende Veränderungen nach sich, die in Politik, Gesellschaft und Kultur zum Tragen kommen. Dabei gehört die Umformung und Umdeutung von Stadt und Landschaft fast zwangsläufig zum Prozess der Identitätsfindung; denn die Visualisierung von Zäsuren wird nirgends deutlicher als im öffentlichen Raum. Auch die Gründung der Türkischen Republik hatte nach 1923 einen grundlegenden Umgestaltungsprozess im urbanen und ländlichen Bereich zur Folge. Die vom Staatsgründer und Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk propagierte Modernisierung und Verwestlichung, die zum Grundkonzept seiner Politik gehörte, bezog sich in besonderem Maße auf das architektonische und städtebauliche Gesicht der neuen Türkei. Dabei galt es, die Überwindung des islamischen Herrschaftssystems, des Osmanischen Reiches, durch Bauten und Planungsansätze sichtbar zu machen. Die Ablösung Istanbuls als Hauptstadt, die Ausrufung der Provinzstadt Ankara zur Leitzentrale des Landes und die Konzeption einer Metropole nach westeuropäischem Muster waren wichtige Schritte zur Etablierung einer republikanischen Baukultur. Dabei erhielt gerade die neue Hauptstadt Ankara einen Modellcharakter.

Der Ausbau der Kleinstadt, die am Schnittpunkt zweier Karawanenstraßen gelegen war, zur neuen Staatsmetropole bot die Chance, ein neues Stadtbild zu entwickeln, das nicht bereits durch jahrhundertealte Bautraditionen geprägt war. Der Wunsch nach Überwindung betraf nicht nur religiöse Insignien wie Moscheen, Paläste und Medressen, sondern vor allem das architektonische Zeichensystem der osmanischen Epoche mit seinen Kuppeln, Minaretten, ornamentträchtigen Fassaden und Details. Ankara sollte städtebauliches Gegenbild zur osmanischen Stadt und einer ganzen Epoche sein. Auf eben diese Art und Weise interpretierten viele Besucher die wachsende Stadt Ankara: „In der Ferne eine Festung auf einem Felsberge, der in der Mitte durchgebrochen ist, und im Vordergrund ganz moderne Bauten im eckigen Sachstil. Es ist Ankara, das herannaht. Und all unsere Spannung richtet sich jetzt auf das neutürkische Experiment, das man auch das türkische Wunder genannt hat. […] Aber ist es zu verwundern, daß sie ihr ganzes Denken auf das konzentrieren, was sie bisher nicht hatten? Wie könnte man ohne solchen Radikalismus sonst in so kurzer Zeit eine ganz moderne europäische Stadt aus asiatischem Boden stampfen! Alle Achtung vor dieser Energie, vor diesem Willen, der den Weg aus dem 16. ins 20. Jahrhundert fand.“ Für den ausländischen Beobachter war das Ankara des Jahres 1934 ein Stein gewordenes Sinnbild eines türkischen Weges in die Moderne. In keiner anderen türkischen Stadt jener Jahre waren die radikalen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der republikanischen Ära derart deutlich zu sehen. Welchen Stellenwert die Hauptstadt für die Regierung hatte, lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: Die öffentlichen Ausgaben pro Einwohner waren 1931 in Ankara 23 Mal so hoch wie im Rest der Türkei.

Die veränderten politischen Bedingungen und der Abschied vom Kalifenstaat zeigten sich in der veränderten Planungskultur und Architektur. So galt es, Verwaltungsstrukturen eines demokratischen Landes zu installieren, kulturelle Institutionen wie Theater und Volkshäuser zu errichten, Zweigstellen der neugegründeten Banken und Wohnungen mittels Kooperativen zu erbauen. Mehr noch als die Addition architektonischer Einzelbauten sollte es um einen politischen Gesamtumbau gehen, der sich radikal von Erscheinungsformen der osmanischen Stadt unterschied. Charakteristisch für deren Genese war der aus dem Islam abgeleitete Grundsatz, dass das Weltliche kein Spiegel für das Jenseitige und die Ordnung von Gott geschaffen sei. Damit ordnete sich jeglicher urbane Wille oder Fortschrittsgedanke einem Fatalismus unter. Ankara dagegen sollte eine geregelte Stadt nach westeuropäischem Muster werden. Bei der Konzeption der Hauptstadt wurden nicht nur Planungsmaßstäbe des Westens wie die Übersichtlichkeit des Straßennetzes, Unterteilung in Wohn-, Arbeits- und Kulturviertel und ein gelenktes urbanes Wachstum übernommen. Auch die städtebaulichen Entwürfe, Ministerial- und Repräsentationsbauten stammten aus der Hand westeuropäischer Planer. Dies war ein zusätzliches Mittel der Legitimierung des Paradigmenwechsels: Man ahmte die ausländischen Urbanisierungs- und Architekturkonzepte nicht nach, sondern ließ sie sich gleich im Original festschreiben. Zugleich konnte der Aufbau einer neuen Stadt innerhalb kürzester Zeit erfolgen.

Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in Ankara

Noch in den ersten Jahren nach Republikgründung gestalteten jene Baumeister das Gesicht Ankaras, die bereits in der Spätphase des Osmanischen Reiches prägend gewesen waren. Parlamente, Hotels und Amtssitze wurden im neoosmanischen Stil errichtet, der Elemente der islamischen Sakral- und Feudalarchitektur mit Jugendstilelementen synthetisierte. Doch bereits um 1927 zeigte sich ein radikaler Bruch mit althergebrachten Baustilen. Die türkischen Ministerien holten Architekten aus Deutschland und Österreich in das Land, deren Entwürfe einen deutlichen Kontrast zu der dekorativen, ornamentalen Architektur ihrer osmanischen Vorgänger, aber auch zur traditionellen türkischen Ziegeldacharchitektur, bildeten. Viele türkische höhere Beamte und Politiker hatten einst selbst in Westeuropa studiert und gute Kontakte vor allem in das deutschsprachige Ausland. Das türkische Gesundheitsministerium verpflichtete die österreichischen Baumeister Theodor Jost und Robert Oerley, die Gebäude für Hygiene und Gesundheit entwarfen. Das türkische Bauministerium warb den Wiener Clemens Holzmeister an, der eine Vielzahl an Ministerien und anderen staatstragenden Bauten errichten sollte. 1927 kam Holzmeisters ehemaliger Assistent an der Wiener Akademie der Künste, Ernst A. Egli, in die Türkei. Er sollte fortan für das türkische Unterrichtsministerium den Hochschul- und Schulbau im gesamten Land leiten. Innerhalb weniger Jahre entstand in der kargen Steppenlandschaft Ankaras eine Hauptstadt nach westlichem Maßstab, in der sich die neuen Bauten noch recht lange wie Fremdkörper ausnahmen. Erst die stadtplanerische Gestaltung, die Begrünung und verkehrstechnische Verbindung machte aus Ankara ein gewachsenes Ganzes.

1929 war der Berliner Stadtplaner Hermann Jansen als Sieger aus einem Wettbewerb hervorgegangen und konnte im Alter von 60 Jahren, nachdem er Erweiterungsplanungen wie Groß-Berlin geplant hatte, eine Neuplanung vornehmen. In einer deutschen Tageszeitung heißt es: „Die Entwicklung der Hauptstadt wird ein Sinnbild des Wiederaufbaues der Türkei durch Mustapha Kemal sein, der sich für diese Verkörperung seines Werkes in Hermann Jansen den hervorragendsten Mitarbeiter ausgesucht hat.“ Damit wird Jansen als direkter Umsetzer des kemalistischen Reformprozesses benannt und der Städtebau zum politischen Instrument erhoben. Und wahrlich verdeutlichen sich in der Konzeption der Hauptstadt die zentralen politischen Modernisierungsentwürfe der Kemalisten. Hermann Jansen zonierte Ankara in ein Regierungsviertel, ein Viertel für ausländische Botschaften und Gesandtschaften, ein Universitätsviertel und Wohngebiete. Ankara sollte von einem Grüngürtel umschlossen sein, für den Anfang der 1930er-Jahre eine hohe Anzahl an Bäumen in die Steppe gepflanzt wurde. Das Konzept von Jansen sah eine Unterteilung in Altstadt rund um die historische Burg („Eskişehir“) und eine Neustadt („Yenişehir“) vor. Während die Altstadt nahezu unberührt blieb, wurden die meisten Bestandsbauten in südlicher Richtung entfernt. Man wollte Platz schaffen für das neue Ankara.

Identitätsstiftend wirkten die Denkmäler, die erstmals unter Atatürk im öffentlichen Raum aufgestellt wurden. Hier konnte man in der Türkei auf keine eigene Tradition zurückgreifen, da diese Kunstgattung unter den Osmanen vermutlich aus religiösen Gründen ein kümmerliches Dasein fristete. Mit der Installierung zweier Denkmäler – einem Atatürk-Standbild an der Sarayburnu-Spitze in Istanbul und dem Siegesdenkmal auf dem Ulus-Platz in Ankara, begann die Etablierung einer republikanischen Denkmalskultur. Dreh- und Angelpunkt dieser Propagandakunst war der Staatsgründer selbst, der als Staatsmann oder Feldherr im Kontext historischer Ereignisse und Reformaktivitäten visualisiert wurde. Die ersten Staatsdenkmäler stammten vor allem von ausländischen Bildhauern, darunter der Italiener Pietro Canonica und die Österreicher Heinrich Krippel, Anton Hanak und Josef Thorak, die bisweilen gleich mehrere Aufträge für öffentliche Plätze, für Banken und Schulen verwirklichten. Die Kemalisten verstanden die Künste als Teil der nationalen Identität und wichtigen Gradmesser für den zivilisatorischen Entwicklungsprozess. Im Gegenzug galt die Vernachlässigung der Künste als Indiz für Rückständigkeit. Die seit 1927 in der gesamten Türkei aufgestellten Denkmäler Atatürks sind Indiz der Etablierung eines Atatürk-Mythos, der den politischen Führer schon zu Lebzeiten zur Personifikation des Staates und der Nation stilisierte. Mit ihren Atatürk-Denkmälern, aber auch mit dem nationalen Sicherheitsdenkmal, das die Verteidigung der Republik in einer eher allegorischen Sprache thematisierte, begannen deutschsprachige Bildhauer wie Krippel, Hanak und Thorak eine bildnerische Tradition, die noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nachwirkte.

Ankara als Zufluchtsort nach 1933

In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren waren deutsche und österreichische Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Hoffnung auf lukrative Aufträge in die Türkei gekommen. Mit Ausnahme von Ernst A. Egli pendelten die Ausländer zwischen ihren Heimatländern, ın denen sie tätig waren, und der Türkei. Künstler wie Heinrich Krippel, Anton Hanak und Josef Thorak arbeiteten primär in ihren heimischen Ateliers, wobei die angefertigten Arbeiten nach Vollendung in die Türkei verschifft wurden. Clemens Holzmeister war gar ein transnational tätiger Architekt, der parallel an der Düsseldorfer Akademie unterrichtete, in Österreich plante und in Ankara zahlreiche Bauten verwirklichte. Später sollte Holzmeister seine Planungstätigkeiten auch auf den Irak und Brasilien ausweiten.

Damit war die Türkei zwar ein wichtiger Auftraggeber, dauerhaft lebte jedoch zunächst kaum einer der künstlerisch tätigen Ausländer dort. Dies änderte sich erst nach 1933, als die Nationalsozialisten in Deutschland zahlreiche anerkannte Kulturschaffende aus ihren Berufen verdrängten, verfolgten und verfemten. Viele von ihnen entschieden sich zu emigrieren. Die türkische Regierung profitierte von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und konnte Architekten von Weltruf wie Bruno Taut, Martin Elsaesser und Margarete Schütte-Lihotzky, renommierte Stadtplaner wie Gustav Oelsner und Martin Wagner, Kommunalexperten wie Ernst Reuter und den Bildhauer Rudolf Belling ins Land holen.

Sie wurden in Schlüsselpositionen, als Professoren an Hochschulen, auf leitenden Posten in Ministerien und Behörden eingesetzt. Sie unterrichteten eine ganze Generation von türkischen Studenten, die später selbst einmal als Professoren tätig sein sollten. Gustav Oelsner und Ernst Reuter begründeten Studienfächer wie den Städtebau an der TU Istanbul (Oelsner) und die Kommunalwissenschaften an der Hochschule für politische Wissenschaften in Ankara (Reuter). Sie schrieben teilweise die ersten Fachbücher und publizierten wegweisende Aufsätze. Viele Schüler Rudolf Bellings an der Bildhauereiabteilung der Akademie in Istanbul waren später erfolgreiche Denkmalskünstler.

In Ankara hinterließen die Emigranten eine Fülle an Werken, die an ihren Aufenthalt erinnern und ihren Einfluss manifestieren. Während Martin Elsaessers konvex gebogene Sümerbank die westeuropäische Architekturmoderne reflektiert, setzte sich Bruno Taut in seiner Philologischen Fakultät am zentralen Atatürk-Boulevard und einigen Schulbauten mit der türkischen Bautradition auseinander. Rudolf Belling entwarf für den Hof der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Ankara ein figuratives Standbild des Atatürk-Nachfolgers Ismet Inönü. Clemens Holzmeister, der nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs 1938 zum Emigranten wurde, erhielt einen letzten Großauftrag: die Realisierung der Nationalversammlung Ankara, die als monumentaler neoklassizistischer Bau das Gesicht der Stadt  in exponierter Lage prägt. Nicht nur angesichts der politischen Bedeutung dieses Baus sollte auch über den Anteil der Emigranten an dem politischen und gesellschaftlichen Wandel reflektiert werden.

Martin Elsaesser entwarf 1935 den ersten profanen Friedhof in der Türkei. Er konzipierte einen Wald- und Parkfriedhof mit Skulpturen und Krematorium, der an europäischen Vorbildern orientiert war und ein Novum in der Türkei darstellte. Ebenso waren die von Ausländern entworfenen Ministerien, die Mädchenschulen, aber auch die für die kemalistische Elite entworfenen Villen mit ihren modernen Grundrisslösungen Indiz eines Paradigmenwechsels in Politik und Gesellschaft. Zugleich sollte betont werden, dass die eingereisten ausländischen Spezialisten nicht isoliert von ihrem türkischen Umfeld wirkten. Man arbeitete mit einheimischen Protagonisten aus Kunst und Architektur zusammen und führte einen intensiven Diskurs über den gegenwärtigen Zustand der türkischen Kultur.

Forum für die türkischen wie deutschsprachigen Architekten war die Zeitschrift Arkitekt, in der seit Gründung 1931 Aufsätze zu Architektur, Städtebau und Plastik veröffentlicht wurden. Den deutschsprachigen Experten brachte man vielerorts kollegialen Respekt entgegen, wobei auch kritische Stimmen nicht ausblieben. Türkische Architekten und Bildhauer forderten mehr Entfaltungsmöglichkeiten für sich, sie sahen die Ausländer zunehmend als Konkurrenz an, die ihnen wichtige Aufträge wegnahmen und Positionen versperrten. Spätestens seit Atatürks Tod im Jahr 1938, für dessen Begräbnis Bruno Taut einen eindrucksvollen Katafalk entwarf, erstarkte der Nationalismus. Die schwierige wirtschaftliche Situation während des Zweiten Weltkriegs sorgte für zusätzliche Anspannung auf dem Arbeitsmarkt.

Das Kriegsende beflügelte bei vielen Emigranten den Wunsch auf Rückkehr in die Heimat, so dass viele von ihnen wie Clemens Holzmeister, Gustav Oelsner, Wilhelm Schütte und Ernst Reuter die Türkei schon bald verließen. Doch die Spuren, die sie vielerorts, vor allem aber in Ankara, hinterließen, sind noch heute deutlich sichtbar. Die Beiträge in dieser Publikation würdigen das umfangreiche und nachhaltige Wirken deutschsprachiger Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in Ankara, das als besonderer Kulturtransfer bezeichnet werden kann.

Prof. Dr. Burcu Doğramacı

Goethe-Institut Ankara
2010