„Es ist ein Privileg in Deutschland zu leben“ – Interview mit Zafer Senocak


Herr Senocak, in Ihrem Buch „Deutschsein – Eine Aufklärungsschrift“ schreiben Sie, dass Sie es als Privileg ansehen, in Deutschland zu leben. Wodurch zeichnet sich das Leben in diesem Land aus?
Als Künstler und Schriftsteller gibt es hier die Möglichkeit, diesen Beruf auszuüben, wie man sie nur in wenigen Ländern auf der Welt findet. Zum einen kann man denken und schreiben, was man will. Das wird immer als selbstverständlich hingenommen, das ist es aber nicht. Man muss sich nur umschauen in der Welt, um das zu begreifen. Außerdem gibt es bemerkenswert viele Fördermöglichkeiten. Ich glaube, es gibt kaum ein Land, das so viele Stipendien vergibt wie Deutschland. Wenn man zudem als Autor schon einen Namen hat, gibt es auch die Möglichkeit, seine Literatur nach außen zu tragen, in andere Teile der Welt. Die Goethe-Institute spielen dabei eine bedeutende Rolle. Ansonsten finde ich, dass Deutschland ein ruhiges Land ist, in dem es sich angenehm leben lässt. Es ist nicht zu verschlafen, aber auch nicht superdynamisch und hektisch. Das liegt mir persönlich.
In „Deutschsein“ schreiben Sie, dass sich Ihre Selbstwahrnehmung als Autor im Laufe der Jahre geändert hat...
Im Laufe der 1990er-Jahre wurde eine Welle losgetreten, unter dem Titel „Fremde“ oder „Ausländer schreiben Deutsch“. Das hat mich etwas irritiert, weil ich mich weder als Ausländer noch als Fremder gefühlt habe, sondern eben als Autor, als Lyriker, der in deutscher Sprache schreibt. Ich habe mir diese Fragen nicht gestellt: Wo gehörst Du hin, was ist dein Hintergrund? Ich bin in Deutschland aufgewachsen, in der deutschen Sprache, und das ging relativ natürlich vor sich.
Wird in der Integrationsdebatte nicht oft vergessen, dass die Integration in Deutschland mitunter auch sehr gut geglückt ist?
Absolut. Insbesondere in Bezug auf den Aufstiegswillen und die Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn man das mit Frankreich vergleicht, mit den Zuständen in den banlieus, mit Großbritannien – das sind ja beides Länder, die eine lange Erfahrung mit Zuwanderung haben – steht Deutschland gar nicht so schlecht da.
Ich frage mich aber, ob das überhaupt so wichtig ist. Denn schauen Sie: die Niederlande waren ja immer ein Vorzeigeland in Sachen Toleranz und Multikulturalität und für die türkische Bevölkerungsgruppe ist die Integration dort sehr gut geglückt. Trotzdem ist in den Niederlanden eine sehr starke rechtsradikale Partei entstanden und es sind viele populistische Politiker unterwegs. Das alles passiert ganz unabhängig von den Integrationserfolgen. Es gibt nämlich Ängste in der Mehrheitsbevölkerung, die man ansprechen muss. Wenn man da wegschaut, beginnt es unter der Oberfläche zu gären.
Sowohl in Holland wie auch in Deutschland gibt es große Ängste in der Bevölkerung gegenüber dem Islam. Sie haben einmal gesagt, dass die Gewalt aus dem Herzen des Islam kommt. Würden Sie das heute auch noch so sehen?
Wir haben ja in der islamischen Welt eine unglaubliche Anzahl von Opfern. Das ist ja nicht nur eine Frage vom Kampf zwischen dem Westen und dem Islam – ich halte das für einen absurden Quatsch! Das ist vielmehr ein innerislamischer Kampf. Und leider schauen nach wie vor alle Muslime weg. Ein gutes Beispiel ist für mich der türkische Premierminister, der sehr viel für sein Land geleistet hat, der aber nicht den Mut hat zu sagen, dass man einen kritischen Blick in die religiösen Quellen werfen muss, in die Hintergründe. An den Missständen in der islamischen Welt sind nicht immer Amerika und Israel schuld, nein, es kommt aus dieser Kultur heraus. Wenn man das im islamischen Kulturkreis thematisieren möchte, ist das höchst problematisch – und das ist kein Zustand, der weiter andauern kann.
stellte die Fragen. Er arbeitet als freier Journalist, Redakteur und Übersetzer in Köln.
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Januar 2012
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