Christoph Hein
Ein Chronist der Gegenwart

Mit der Novelle „Der fremde Freund“, besser bekannt unter dem Titel „Drachenblut“, begann die Karriere einer der wichtigsten Erzähler der ehemaligen DDR. Heute ist Christoph Hein ein genauer Beobachter der brüchigen Aspekte unserer Gegenwart.
Das Werk Christoph Heins umspannt inzwischen drei Jahrzehnte. Geboren 1944 in Schlesien hat er die Anfangsjahre der DDR unter widrigen Umständen miterlebt und sie zuerst als Dramatiker, dann als Erzähler künstlerisch begleitet. Da dem Pfarrerssohn der Weg auf die Oberschule versperrt war, schlug sich Hein mit einfachen Jobs durch, bis er nach einem nachgeholten Abitur und Philosophiestudium den Weg an die Volksbühne in Berlin fand. Dem Theater ist er bis heute verbunden. Seit Schlötel oder was solls (1974) verfasste Christoph Hein immer wieder Theaterstücke, so beispielsweise Die Ritter der Tafelrunde — ein Stück, das im Jahr 1989 als Anspielung auf das erstarrte DDR-Regime empfunden wurde.
Sein bekanntestes erzählerisches Werk ist die Novelle Der fremde Freund (1982), die aus Gründen des Titelschutzes als Drachenblut (1983) im westdeutschen Luchterhand Verlag erschien und den Autor in Westdeutschland bekannt machte. Der zunehmende Erfolg in der Bundesrepublik ermöglichte es Christoph Hein auch kritisch gegenüber der eigenen Staatsführung aufzutreten: In einer Rede auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 kritisierte er die Zensurpraxis mit scharfen Worten. Als Redner bei der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 setzte er sich für eine Reform des maroden Staates ein.
Die Romane Christoph Heins handeln oft von Einzelschicksalen. Von der Ärztin in Der fremde Freund, die sich vor ihrer Außenwelt abschottet, bis zur Malerin Paula Trousseau im gleichnamigen Roman und dem Akademiker Rüdiger Stolzenburg in Heins aktuellem Werk Weiskerns Nachlass ist es kein langer Weg. Diese Kontinuität ist das Erfolgsrezept der Bücher Christoph Heins. Die Wendejahre 1989/90 haben bei ihm weder ein Verstummen noch einen radikalen Wandel eingeleitet. Auch in der Bundesrepublik nach 1990 erschien nahezu jedes Jahr ein neuer Roman.
Die Kontinuität der Geschichte
Am Beginn der aktuellen Werkphase Christoph Heins steht der Roman Landnahme, der in den Zeitungen als „großer Deutschlandroman“ gefeiert wurde. Der 2004 erschienene Geschichtsroman setzt in den frühen 1950er-Jahren der DDR ein und reicht bis zur wiedervereinigten Gegenwart. Im Zentrum steht das fiktive Städtchen Guldenberg, in dem Bernhard Haber, der Außenseiter, zum wichtigsten Mann der Stadt aufsteigt. Gerade hier wird die Kontinuität, die für Christoph Heins Werk bezeichnend ist, deutlich. In einem groß angelegten Panorama handelt er die Geschichte der DDR ohne pathetische Gesten ab und verknüpft sie mit der Geschichte nach 1990. Geschäftliche Beziehungen, Seilschaften und wirtschaftlicher Erfolg sind die Faktoren, die Bestand haben. Unter welchem vorherrschenden System dies geschieht, das ist nachrangig – so die ernüchternde Botschaft für alle, die auf eine Lehre aus der Geschichte hoffen.
Die Nüchternheit, mit der Christoph Hein, der sich selbst als Chronist ohne Botschaft versteht, seine Geschichten erzählt, kann auch überhandnehmen. In seiner frühen Kindheit ein Garten, 2005 erschienen, konnte die Kritiker nicht überzeugen: Zu bedächtig der Tonfall, zu behäbig die Geschichte eines Vaters, der gegen die Windmühlen der Justiz kämpft und doch scheitern muss. Das brisante Thema – der Terroranschlag in Bad Kleinen, bei dem ein Terrorist und ein Polizist ums Leben kamen – hat diesem Roman nicht zum Bestseller verhelfen können.
Fern von aller DDR-Nostalgie
Anschluss an den Erfolg von Landnahme fand Christoph Hein mit der dramatischen, aber ausnehmend ruhig und liebevoll erzählten Geschichte einer Frau, deren letzter Ausweg der Selbstmord ist: Frau Paula Trousseau, veröffentlicht 2007, spannt, ähnlich wie Landnahme, einen großen Bogen von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Die Malerin, an der Kunsthochschule Leipzig anfangs erfolgreich, scheitert immer wieder an sich selbst. Ausgenutzt von Männern und unglücklich in ihrem Schaffen ertränkt sie sich an ihrem letzten Wohnsitz in Frankreich in der Loire. Bemerkenswert ist hier, wie konsequent und einfühlsam der Erzähler Christoph Hein die Perspektive wechselt. Eine weibliche Autobiografie, aus der Sicht eines Mannes geschrieben, die bewegt.
Geradezu ein Beitrag zur Debatte über den Zustand unseres geistigen Milieus ist der 2011 erschienene Roman Weiskerns Nachlass: Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Stolzenburg steht vor dem sicheren Bankrott, als ihn eine Steuernachzahlung erreicht, die er unmöglich begleichen kann. Plötzlich ist Stolzenburg nicht nur wirtschaftlich, sondern an Leib und Leben bedroht. Er lässt sich auf einen zwielichtigen Handel mit angeblich unschätzbar wertvollen Dokumenten zu seinem Forschungsschwerpunkt, dem Mozart-Zeitgenossen Wilhelm Weiskern, ein. Mit meisterhafter Präzision führt Christoph Hein in diesem Roman vor, wie ein Mensch auf seine blanke Existenz reduziert wird.
Anhand von psychologisch gründlich erdachten Einzelschicksalen hat sich Christoph Hein in den letzten zehn Jahren einen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur geschaffen, der fern von aller DDR-Nostalgie ist. Seine Markenzeichen Nüchternheit und präzise Beobachtungsgabe hat er sich bewahrt – die Themen, die er in den letzten Jahren aufgegriffen hat, sind dagegen alles andere als von gestern.