Das folgenreichste Ergebnis des Alte-Musik-Jahres 2014: Die Musik des Bachsohns Carl Philipp Emanuel ist im Jahr seines 300. Geburtstags mit zahlreichen CD-Produktionen und Festivalprogrammen in der Mitte des Musiklebens angekommen. Außerdem: Die Veranstalter suchen nach neuen Vermittlungsformen und Konzertformaten.
Carl Philipp Emanuel Bach und Christoph Willibald Gluck
Ganz erstaunlich war aber für das Alte-Musik-Jahr 2014, in welchem Umfang der zweitälteste Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel im Jahr seines 300. Geburtstags sich in die vorderen Ränge bei den CD-Neueinspielungen und vor allem in den Konzertprogrammen schieben konnte. Dabei geriet der zweite große Jubilar des Jahres 2014, Christoph Willibald Gluck, regelrecht ins Hintertreffen. Auf dem CD-Markt war fast Fehlanzeige mit Ausnahme der Einspielung von Glucks Version von La clemenza di Tito mit dem Ensemble L'arte del mondo unter Werner Ehrhardt in einer Koproduktion von Bayer Kultur, WDR und Deutscher Harmonia Mundi. Auch die Opernhäuser präsentierten wie all die Jahre Orfeo ed Euridice, die beiden Iphigenien-Opern, in Lübeck noch Armide und in Frankfurt Ezio (bis Dezember 2013). Dabei hat Gluck rund 50 Opern geschrieben. Die Gluck Opern Festspiele in Nürnberg zeigten immerhin Paris und Helena und Le Cinesi und die Tage Alter Musik in Herne präsentierten Atto d'Orfeo in einer deutschen Erstaufführung, das ist die Version des Gluckschen Orpheus für den Hof in Parma aus dem Jahr 1769.
Während das Gluck-Jahr (leider) nur eine vergleichsweise schmale Resonanz erfuhr, gab es einen regelrechten Boom mit Aufführungen der Werke von Carl Philipp Emanuel Bach. Selbst die Magdeburger Telemann-Festtage sahen ihren eigentlichen Namens- und Programmgeber diesmal unter dem Gesichtspunkt der verwandtschaftlichen Beziehung zu Carl Philipp Emanuel Bach, dessen Patenonkel Telemann war. Die Tage Alter Musik in Herne erkundeten, ausgehend von der Musik des Bachsohns, unter dem Thema "Seelentöne" Spuren des empfindsamen Musizierens durch die Jahrhunderte, von der Johannesminne in Frauenklöstern bis zu den Cellokompositionen Beethovens, und das Bachfest Leipzig titelte in Anklang an C. P. E. Bachs Klavierschule mit "Die wahre Art" und feierte den 300. Geburtstag des Sohns und nicht den 329. des Vaters. Genauso die Thüringer Bachwochen mit dem Thema "300 Jahre Vater und Sohn" oder das zweijährlich stattfindende Festival Stuttgart Barock. Zum Jubiläumsjahr 1714 gab es eine spezielle Internetseite cpebach.de, auf der sich die Bachstädte Hamburg, Berlin, Potsdam, Weimar, Leipzig und Frankfurt/Oder (dem Studienort von C. P. E. Bach) zusammengeschaltet haben. Wenn manche Veranstalter wie Hermann Max bei seinem Knechtstedener Alte Musik Festival C. P. E. Bach nicht zum Festivalthema erhoben, so tourte er als Dirigent doch mit der Oratorienproduktion Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu zum Rheingau Festival oder zum Festival Europäische Kirchenmusik nach Schwäbisch Gmünd. Die in ganz Deutschland aktive Lautten Compagney Berlin, mittlerweile in der Deutschen Alte-Musik-Szene das Ensemble mit den vielleicht anspruchsvollsten Programmkonzepten, war beteiligt an der Aufführung aller vier Passionen von C. P. E. Bach am Karfreitag in Berlin.
Die Festivallandschaft im Bereich Alte Musik ist in Deutschland dicht und vielfältig. Es gibt Spezialfestivals wie die Tage Alter Musik in Regensburg, das sich in den dreißig Jahren seines Bestehens einen Namen gemacht als ein Festival, bei dem immer wieder Ensembles aus der ganzen Welt entdeckt werden, oder die Tage Alter Musik in Herne mit ihrer ausgefeilten Dramaturgie und Themensetzung, die nächstes Jahr zum 40. Mal stattfinden werden. Diese Festivals stehen neben solchen, die ihren Ausgangspunkt in der Region und den besonderen Spielstätten nehmen wie die Musikfestspiele Potsdam, die vor 60 Jahren als „Parkfestspiele Sanssouci“ gegründet wurden, die Arolser Barock-Festspiele oder die Brühler Schlosskonzerte. Und schließlich gibt es noch Festivals, die einem einzelnen Komponisten gelten wie die drei Händel-Festspiele in Deutschland in Karlsruhe, Göttingen und Halle oder die verschiedenen Bach-Festivals. Bemerkenswert und eventuell zukunftsweisend war im Jahr 2014 die Kooperation von Halle und Göttingen, die drei Konzerte zum Thema Krönungs- und Trauermusiken für die englischen Könige Georg I. und II. gemeinsam veranstalteten.
Neue Konzertformen
Zunehmend versuchen die Alte-Musik-Festivals, die traditionellen Konzertformen durch innovative Konzepte und pädagogische Vermittlungsformen zu ergänzen. Das Festival in Knechtsteden veranstaltete 2014 Symposien zum Festivalthema "Götter und Menschen" und ein weiteres Symposium zur Zukunft der Alten Musik selbst, bei dem Festivalleiter Hermann Max seine Befürchtung ausdrückte, die Alte Musik in der heutigen Zeit sei bedroht, weil beim Publikum mehr und mehr historisches Verständnis abhanden gekommen sei. Ein interessanter Ansatz war bei den Musikfestspielen Potsdam der Konzertzyklus "24 Stunden Antike" mit 24 Einzelkonzerten, passend zum Generalthema "Mittelmeer". Unermüdlich aktiv im Bereich innovative Konzertformen ist Folkert Uhde, schon länger beim Berliner Zweijahresfestival "Zeitfenster" und seit vorigem Jahr auch als künstlerischer Leiter der Internationalen Orgelwoche Nürnberg, wo er auch 2014 Raum-Klang-Konzepte verwirklichte, 15-minütige Kurzkonzerte anbot und eine "IONacht" mit einer Abschlussparty veranstaltete mit 16 Orgelkonzerten an sechs Orten und einem DJ. Folkert Uhde hat sich selbst die Berufsbezeichnung "Konzertdesigner" gegeben. In einem WDR-Interview sagte er, diese Suche nach neuen Präsentationsformen sei der Sorge um die Zukunftsfähigkeit des Genres Alte Musik geschuldet, die noch bis in die 80er- und 90er-Jahren hinein mit der historischen Aufführungspraxis per se als innovativ galt, heute aber nur den Standard repräsentiert.
Alte Musik im Radio
Alte Musik hat im Musikleben nicht nur Platz in den Festivals und in den über das Jahr laufenden Reihen der großen Konzerthäuser wie in Essen oder Köln, sondern vor allem auch in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Dort wurden 2014 spezielle Konzertreihen wie "Das Alte Werk" beim NDR, die "WDR 3 Funkhauskonzerte Alte Musik" beim WDR oder "Musica Antiqua" beim BR fortgeführt. Genauso wichtig sind die Mitschnitte und Sendungen. So hat der BR unter anderem dem Musikfest Eichstätt Publizität und Starthilfe gegeben, das 2014 als Alte Musik-Festival neu gegründet wurde, während der WDR dem ebenfalls noch jungen Kölner Fest für Alte Musik mit seinen unkonventionellen musiktheatralischen Präsentationen einen großen Publikumskreis erschlossen hat.
Die Rundfunkanstalten senden regelmäßig wichtige Opernproduktionen im Land und berücksichtigen dabei auch die Alte Musik: der NDR im Jahr 2014 zum Beispiel mit der Liveübertragung der selten gespielten Oper Faramondo von den Göttinger Händel-Festspielen, der SWR mit der Oper Leucippo von Johann Adolf Hasse als Eigenproduktion des Senders bei den Schwetzinger Festspielen, oder der MDR mit der Liveübertragung von Händels Bühnen-Musik Alceste, gepaart mit einem Auftragswerk des Schweizer Komponisten Daniel Schnyder zum Alceste-Stoff von den Händel-Festspielen Halle. Das Deutschlandradio Kultur hat in seiner Opernserie regelmäßig Alte Musik im Programm und übertrug zum Beispiel von den Musikfestspielen Potsdam die Rarität La Stellidaura vendicante von Francesco Provenzale, kümmerte sich aber auch um die Alte-Musik-Aktivitäten der Stadt- und Staatstheater, zum Beispiel mit der Übertragung von Cavallis Oper La Calisto aus Wiesbaden. Dies war eine jener typischen und inzwischen regelmäßig stattfindenden Musiktheaterproduktionen an den Opernhäusern, bei denen die nicht auf Alte Musik spezialisierten Hausorchester mit Unterstützung von Continuo-Spielern und Experten am Dirigentenpult respektable Ergebnisse zustande bringen, ein paralleler Trend zu den Opernproduktionen der Festivals, bei denen im Gegensatz zu Staats- und Stadttheatern in der Regel Ensembles der historischen Aufführungspraxis zum Einsatz kommen.
Hochschulen und Institute
Ein Rückblick auf die Alte Musik in Deutschland des Jahres 2014 wäre unvollständig ohne die Erwähnung des Generationswechsels beim Bach-Archiv-Leipzig, an dessen Spitze der Musikwissenschaftler Peter Wollny als Nachfolger von Christoph Wolff getreten ist, ein Wechsel in der Kontinuität, denn Wollny gehört der Institution seit 21 Jahren an. Zu seiner Bestellung formulierte er das anspruchsvolle und zugleich bescheiden klingende Ziel, die Archiv- und Quellenforschung fortzusetzen, um "die weißen Flecken in Bachs Biografie zu verringern".
Wenn die historische Musikwissenschaft das intellektuelle Fundament für die Praxis Alter Musik bildet, könnten die Musikhochschulen das künstlerisch-pädagogische Fundament sein. Allerdings war die historische Aufführungspraxis im Musikleben zuerst da, und erst als sie dort nachhaltig verankert war, zogen die Musikhochschulen mit entsprechenden Ausbildungsangeboten nach. Heute bieten die deutschen Musikhochschulen in der Regel Master-Studiengänge im Bereich Alte Musik an, die meisten Hochschulen inzwischen auch grundständige Bachelor-Studiengänge. Trossingen war schon immer ein Zentrum der Hochschulausbildung für Alte Musik. Das Institut für Alte Musik dort bestand 2014 schon 20 Jahre. Mit dem Bachelor-Studiengang "Barockorchester" hat man ein europaweit einzigartiges Angebot geschaffen. Die Idee dahinter ist, dass ähnlich wie bei den herkömmlichen modernen Instrumenten der musikalische Nachwuchs nicht einseitig auf eine dann meist nicht stattfindende Solistenkarriere qualifiziert werden soll, sondern gezielt auf das Ensemblemusizieren. In diesem Studiengang sind zurzeit zehn Studierende eingeschrieben, und er verzeichnet eine erfreulich wachsende Resonanz, sagt der Studiengangsleiter und Barockgeiger Anton Steck. Man darf aber nicht die Augen davor verschließen, dass es - anders als in den Sinfonieorchestern in öffentlicher Trägerschaft - nach wie vor keine festen Musikerstellen im Bereich Alte Musik gibt. Der Trossinger Studiengang qualifiziert deswegen insbesondere auch für eine Tätigkeit als freiberuflicher Künstler, was ähnlich wie beim Jazz oder der Neuen Musik ein sehr hohes Maß an Engagement und Flexibilität verlangt.