Klassische, Neue und Alte Musik 2022
Kraft und Krisen

Im Jahr 2022 wurde es in der Klassik-Szene doch nicht so schlagartig besser wie das nach zwei Jahren Corona-Beschränkung erhofft worden war. In der Klassischen Musik, der Alten Musik und in der Neuen Musik wurde weiterhin Vieles in Frage gestellt. Und Politik war nun endgültig nicht mehr von der Kunst zu trennen. Das ist anstrengend. Hat aber 2022 auch interessante künstlerische Blüten getragen.
Von Rita Argauer
Das Jahr 2022 begann als ein hoffnungsvolles. Im Januar 2022 schien für die Musikwelt zunächst Licht auf. Die neue Bundesregierung hatte angekündigt, spätestens von Ende März an die Corona-Beschränkungen zu lockern. Omikron mit seinen nun nachweislich milder werdenden Krankheitsverläufen sorgte dafür, dass diese Hoffnung auf Normalität nicht ganz so abwegig schien. Und schon vor dem Freedom Day getauften 20. März konnten trotz hoher Inzidenzen Kulturveranstaltungen stattfinden. All das löste sich ein. Doch normal, also so, wie das klassische Musikleben vor der Coronakrise funktioniert hatte, wurde es trotzdem nicht. Da aber im Handeln, im Arbeiten und im Aufführen in der Krise auch immer die Aufgabe liegt, die Dinge zu verändern, sind die Chancen auch groß. In den zwei Jahren der Corona-Beschränkungen hatten die Protagonist*innen der doch sehr von Tradition geprägten Klassik-Szene gelernt, ihre Strukturen, Formate und Formen zu verändern. Im Jahr 2022 wurde diese neue Wandlungsfähigkeit so politisch wie lange nicht mehr in der Kunst.
Anfang Februar 2022 startete das Eclat-Festival in Stuttgart – in seinem 41. Jahr. Eclat hat es im Namen und in der Agenda, Strukturen aufzubrechen – deshalb ist die Tradition hier schon qua definitionem eine revolutionäre. Das Umwälzen und Neu-Denken ist Standard bei diesem Festival für Neue Musik – und beinhaltet auch neue Formate. Die hybride Ausgabe mit digitalen und physischen Aufführungsformaten, die 2022 stattfand, war zwar natürlich der Planungsunsicherheit durch die Covid-Krise geschuldet. Aber für die Stuttgarter*innen war das trotzdem auch gar nicht so neu. Denn mit Echoes from Belarus zeigte sich Eclat als eine Art digitale Bühne. Schon seit 2021 veröffentlichten Künstler*innen aus Belarus hier kurze Schnipsel ihres Schaffens. Wild, eklektisch und als eine Art Brennglas auf das autokratische und grausame politische Geschehen in einem Staat mitten in Europa.
Mit Russlands Angriff auf die Ukraine drei Wochen später, zeigte sich, wie relevant dieser Blick nach Osteuropa ist. Die Normalität nach Corona währte kurz bis gar nicht. Der Boden schwankte gewaltig, die Kunst zeigte sich politisch und solidarisch. Diskussionen um das russische Erbe in der klassischen Musik (das ja auf Künstler*innen-Seite und Komponist*innen-Seite nicht unerheblich ist) kamen auf. Zum seltsamen Akt der politischen Äußerung wurde es beispielsweise in Symphoniekonzerten, Tschaikowski einfach aus dem Programm zu nehmen, wie geschehen in Cardiff in Wales. Erklärender agierte Vladimir Jurowski. Mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielte der Dirigent, der auch Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper ist, in zwei Konzerten anstelle von Tschaikowskis Slawischen Marsch nun die Ukrainische Nationalhymne. Außerdem nahm er mit Mychajlo Werbyzkyjs Sinfonischer Overtüre Nr. 1 ein Werk eines ukrainischen Komponisten ins Programm und schob so kurz nach Kriegsbeginn den musikalischen Fokus von Russland hin zur Ukraine.
Die Auswirkung von Russlands Angriff auf die Ukraine ist in der deutschen Klassik-Szene groß
Politische Äußerungen verknüpften sich im Jahr 2022 immer enger mit der Kunst. Bis vor einigen Jahren war Kunst, insbesondere klassische, noch mit einem gewissen Nimbus der Unfehlbarkeit umgeben. Dieser existierte 2022 nicht mehr. Während in den Jahren zuvor noch zweifelhafte politische Äußerungen russischer Künstler*innen mit Verweis auf ihr geschätztes künstlerisches Schaffen, akzeptiert wurden, kippte diese Akzeptanz 2022. Engagements wurden gelöst, Verträge annulliert. Kunst und politische Haltung – eine Trennung funktionierte im unmittelbaren Eindruck des Angriffs auf die Ukraine nicht mehr. Und so bekamen auch normale Abo-Konzerte plötzlich eine zeitgeschichtliche Haltung. Die Münchner Philharmoniker eröffneten ihre Saison 2022/23 im September beispielsweise mit einer Aufführung von Sofia Gubaidulinas Der Zorn Gottes, flankiert von einer Elegie des ukrainischen Modernisten Valentin Silvestrov und Ausschnitten aus Wagners Parsifal. Das Ganze unter der Leitung der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv – politischer kann ein eigentlich unpolitisches Abo-Symphoniekonzert nicht gestrickt sein.Lyniv, Barenboim und Thielemann: Personalpolitik und Produktionen
Ob Lyniv die neue Chefdirigentin der Münchner Philharmoniker werden könnte, bleibt offen. Doch Personalpolitik bestimmte auch in Berlin ein wenig später das Musikgeschehen. Daniel Barenboim plante Wagners Ring – alle vier Teile innerhalb einer Woche an der Staatsoper als Auftakt zur neuen Spielzeit. Musiktheatralischer Superlativ, inszeniert von Dmitri Tcherniakov. Aus gesundheitlichen Gründen musste Barenboim sein Dirigat absagen. Christian Thielemann sprang ein und brachte sich somit als potenzieller Nachfolger Barenboims ins Spiel.Vor allem in der Neuen Musik findet Politik im Jahr 2022 aber auch einen künstlerischen Niederschlag. Neben dem Belarus-Schwerpunkt beim Eclat-Festival in Stuttgart eröffnete die Münchner Biennale für Neues Musiktheater im Mai mit den beißend harten Liedern von Vertreibung und Nimmerwiederkehr von Bernhard Glander und dem ukrainischen Lyriker Serhij Zhadan über das Leid von (Kriegs-)Geflüchteten – und zeigte hier auf ein Thema, das in Europa weiterhin brennend aktuell bleibt, aber angesichts der anderen Krisen in den vergangenen Jahren fast zu einer Normalität geworden ist, die sie nicht sein sollte. Ebenfalls im Mai später startete die Bayerische Staatsoper ihr neues Festival Ja, Mai und zeigte eine Monographie des Komponisten Georg Friedrich Haas. Gesellschaftspolitischer Horror in Bluthaus, einer grausamem Inszestgeschichte mit Anleihen bei den Fällen Kampusch und Fritzl, zwei Entführungsverbrechen in Österreich, die in den Nullerjahren unter großem medialen Aufsehen aufgedeckt wurden. Das zweite Stück Thomas gab einen analytisch-beklemmenden Blick aufs Sterben.