Jazz 2016
Frauen voran!

Anna-Lena Schnabel Quintett

Die im Frühjahr veröffentlichte „Jazzstudie“ belegt, was man ahnte: Jazzmusiker verdienen wenig. Aber die Szene lebt, und auch in die Kulturpolitik kommt Bewegung. Von einem gerade noch geretteten Traditions-Festival, unverhofftem Geldsegen, neuer Lust am Jazzrock und dem Kampf der Frauen: ein Rückblick auf das Jazz-Jahr 2016.
 

Unterwegs in die Altersarmut

Sie waren mit Spannung erwartet worden: die Ergebnisse der Untersuchung zu den „Lebens- und Arbeitsbedingungen von Jazzmusikerinnen und -musikern in Deutschland“. 2015 hatten die Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ), das Jazzinstitut Darmstadt und die IG Jazz die Studie auf den Weg gebracht. Im Frühjahr 2016 wurde sie veröffentlicht. Was man vermutete, ist nun empirisch belegt: Jazzmusiker in Deutschland verdienen schlecht. Die Hälfte von ihnen muss sich mit 1000 € im Monat oder weniger begnügen. Die Gagen in den Metropolen liegen in der Mehrzahl bei höchstens 50 € pro Auftritt. Der typische Jazzmusiker ist männlich, gebildet, hat einen Hochschulabschluss, lebt in einer Großstadt, liebt das, was er tut ‑ und ist auf dem Weg in die Altersarmut.

Mit den Ergebnissen der Studie im Rücken versucht die UDJ ‑ auch als Teil des Branchen-Interessenverbandes „Bundeskonferenz Jazz“ ‑ in Berlin Lobbyarbeit für Jazzmusiker zu betreiben. Ein Erfolg war Ende des Jahres zu verzeichnen: Der Deutsche Bundestag will laut Ankündigung Rock, Pop und Jazz ab 2017 mit insgesamt 8,2 Millionen Euro mehr fördern. Dem Jazz kommt das unter anderem durch Verdoppelung der Mittel des Spielstättenprogrammpreises APPLAUS auf dann 2 Mio. Euro, durch Erhöhung der Mittel für die Künstler- und Infrastrukturförderung der „Initiative Musik“ um 1,5 Mio. Euro und durch 200.000 Euro mehr für die Messe jazzahead! ab 2018 zugute.

Gerade noch gerettet: die Querelen ums Moers-Festival

Der Stadtgarten in Köln erhielt gute Nachrichten: Er darf sich demnächst offiziell „Europäisches Zentrum für Jazz und improvisierte Musik“ nennen. Das bedeutet konkret: Ab 2017 wird er mit jährlich 400.000 €, ab 2018 sogar 600.000 € unterstützt. Das Geld stellen je zur Hälfte die Stadt Köln und das Land Nordrhein-Westfalen. Für eine deutsche Jazz-Spielstätte ist ein Förderbetrag in dieser Höhe beispiellos und eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Der künstlerische Leiter des Stadtgartens, Reiner Michalke, wird sich voll auf die Arbeit konzentrieren können, ein anspruchsvolles Programm zu machen. Denn im August hat er den Job, für den er bundesweit bekannter war, hingeschmissen: Nach 11 Jahren ist er als künstlerischer Leiter des Moers Festivals, des bedeutendsten deutschen Festivals für improvisierte Musik, zurückgetreten. Vorausgegangen waren erbitterte Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Geschäftsführer der Moers Kultur GmbH. Nach Monaten des Chaos wurde quasi im letzten Augenblick der Bassist, Ex-Traumzeit-Festival-Leiter und Moerser Tim Isfort zum neuen künstlerischen Leiter berufen, zunächst für drei Jahre. Dass zugleich mit ihm ein neuer Geschäftsführer ins Amt tritt, lässt hoffen.
 
Unterdessen träumt man in Berlin von einem House of Jazz am Spreeufer. Nach amerikanischem Vorbild soll es Konzertsaal, Akademie, Förderzentrum und Residenz eines festen Orchesters in einem werden. Till Brönner hat es angeregt. Die Pläne sind weit gediehen, die Finanzierung angeleiert. Geschätzte Baukosten: 25 Millionen Euro, laufende Kosten: 5,2 Millionen Euro pro Jahr. Inhaltlich klar ist bisher nur eines: man will auf Weltklasseniveau arbeiten. Wenn alles gutgeht, will man 2020 eröffnen.

„Frauen im Jazz... demnächst auch Hunde?“

„Gefühlt“ war 2016 ein Jahr der Frauen im Jazz. Das lag nicht zuletzt an der Themensetzung von Festivals, Studien, Diskussionsforen. Eingeläutet wurde das schon im Vorjahr: Das Darmstädter Jazzinstitut hatte seine letzte Fachtagung ganz unter das Motto „Gender“ gestellt. Im Herbst 2016 erschien die Studie des Deutschen Kulturrates „Frauen in Kultur und Medien“, die das Thema auch in der Musikpresse neu aufwarf. Mehrere Festivals setzten Frauen-Schwerpunkte: Im März gründete sich in Essen das  Jazzmusikerinnen-Kollektiv „Peng!“, das ein komplett weibliches Festival auf die Beine stellte. Im grenznahen Schweizer Schaffhausen durften dieses Jahr ebenfalls nur Frauenbands auf die Bühne. Das All Star Ensemble des JazzBaltica Festivals war 2016 eine ganze Big Band nur aus Musikerinnen. Und schließlich präsentierte das Jazzfest Berlin 2016 ein Programm, bei dem mehr als die Hälfte aller Ensembles unter weiblicher Leitung stand. War 2016 also wirklich ein Jahr der Frauen im Jazz?

Ein Blick auf die Zahlen, und die Antwort muss lauten: Keineswegs! Laut der genannten Jazzstudie sind aktuell gerade mal 20 % der aktiven Jazzmusikerschaft weiblich. Der Anteil von Frauen, die sich für die Jazz-Studiengänge einschrieben, stagnierte in den letzten Semestern bei etwa einem Viertel oder ging sogar zurück. Und noch immer haben Jazzmusikerinnen mit Vorurteilen, dummen Sprüchen oder schlicht blöden Witzen zu kämpfen. Auf dem 23. UDJ-Forum in Köln wurde unter anderem über weibliche Erfahrungen in der traditionellen Männerbranche „Jazz“ diskutiert. Provokante Überschrift: „Frauen im JazzmusikerInnenberuf – demnächst auch Hunde?“

Frauen im Jazz – das war 2016 mehr eine Frage des Bewusstseins als des Seins. Wenn das Jazz-Jahr trotzdem im Rückblick einen weiblichen Akzent trägt, dann liegt das vor allem an manch herausragenden Beiträgen von Musikerinnen. Beim Jazzfest Berlin waren einige von ihnen zu erleben. Etwa die junge Hamburger Saxofonistin Anna-Lena Schnabel. Sie veröffentlichte 2016 ihr CD-Debut Bottles, Books & Bamboo. Darauf zeigt die 26jährige schon jetzt jenes Quantum Eigensinn und Ausdruckswillen, das eine interessante Künstlerbiografie verspricht. Saxofonistin Angelika Niescier war mit ihren NYC 5 in Berlin zu Gast. Deren erster Tonträger erschien ebenfalls dieses Jahr. (Sowohl bei Schnabel als auch bei Niescier entscheidend beteiligt war übrigens der Pianist Florian Weber ‑ einer der prägenden Musiker des Jahres.) Wenn es eine Musikerin gibt, die die unaufgeregte Selbstverständlichkeit personifiziert, mit der Frauen heute Jazz auf hohem Niveau machen, dann ist es die Berliner Pianistin Julia Hülsmann. Auch sie war beim Jazzfest Berlin zu hören. 2016 wurde sie für ihre bisherige künstlerische Leistung mit dem SWR-Jazzpreis belohnt. Zurzeit koordiniert sie ein Musikprojekt am Jazz Institut Berlin, in dem sich 14 Musikerinnen mit dem „Frauenthema“ auseinandersetzen.

Zurück in die Zukunft: Jazzrock heute

Lange war im Jazzrock nicht viel Neues hörbar. 2016 sah das anders aus. Gerade in Rückbesinnung auf den Sound und das Instrumentarium der 1970er Jahre machten zeitgenössische Bands eine spannende, aktuelle Fusionmusik. In Köln stehen dafür Projekte wie Pool Party des Bassisten Oliver Lutz und Niels Kleins Tubes and Wires, in Berlin The Shredz, eine Art elektro-lastiges Jazz-Trance-Quartett des Schlagzeugers Eric Schaefer. In Projekten wie der Münchner Monika Roscher Big Band dagegen verschwimmen die Grenzen zwischen Jazz und zeitgenössischem Pop bis zur Unkenntlichkeit. 

Am Rande des Wahnsinns

2016 war reich an guten hiesigen Jazzproduktionen. Nicht nur qualitativ, auch quantitativ stach eine Veröffentlichung des Saxofonisten Hayden Chisholm hervor: Schon zum zweiten Mal in den letzten Jahren hat er ein 13-CD-Set (!) herausgebracht. Es enthält lauter aktuelle Aufnahmen. Wofür andere ein Leben brauchen, staut sich bei ihm offenbar in wenigen Jahren an. Die Besetzungen reichen vom unbegleiteten Solo bis zur Big Band; das stilistische Spektrum erstreckt sich von freier Klangimprovisation bis zu traditionellem Swing. Titel der Edition: Cusp of oblivion, frei übersetzbar mit Am Rande des Wahnsinns. Chisholm zeigt sich mit diesem auf Tonträger gebannten Schaffensrausch als einer der kreativsten Musiker der deutschen Szene.

Jubiläen: 10jährige...

Auch 2016 war ein Jahr der Jubiläen im Jazz. Zwei Ensembles, die gerade noch als Nachwuchs gehandelt wurden, konnten ihre 10jährigen feiern. Sie stehen zugleich für den Sound der beiden wichtigsten deutschen Jazz-Metropolen Köln und Berlin. Das eine war das vielgelobte Trio des Pianisten Pablo Held. Seine ebenso farbenreiche und filigrane wie explosive Musik bescherte ihm internationalen Erfolg. Die neue CD Lineage dokumentiert seinen Rang. Das andere Ensemble war jenes Trio, das bis dato Hyperactive Kid hieß. Anlässlich ihrer neuen Platte Riot legten die drei sperrigen Berliner ihren Bandnamen ab, weil sie sich durch ihn zu sehr mit einer bestimmten Erwartung konfrontiert sahen. Sie heißen nun, nach den Nachnamen der Bandmitglieder, Gropper/Graupe/Lillinger. Ihre Ästhetik bleibt radikal: Es gibt wohl keine improvisierende Band in Deutschland, die zugleich eine so komplexe und kompromisslose komponierte Musik spielt.

...und 80jährige

Das Jahr begann weniger im Zeichen von Aufbruch als von Rückblick. 2016 gab es so viele bedeutende alte Jubilare im Jazz wie nie. Das begann mit Wolfgang Dauner, der bereits am 30. Dezember 2015 80 wurde. Die musikalische Feier, samt Verleihung des Jazzpreises Baden-Württemberg, fand im Januar statt. Am 6. April folgte Manfred Schoof. Und am 12. Mai wurde auch der wohl berühmteste aller lebenden deutschen Jazzmusiker 80 Jahre alt: Klaus Doldinger.

In der medialen Wahrnehmung schienen die verdienten alten Männer den jungen manchmal die Luft zum Atmen zu nehmen. Aber dass künstlerischer Mut  keine Generationenfrage ist, das beweist der „elder statesman“ des Deutschen Jazz, der 87jährige Klarinettist Rolf Kühn. Er veröffentlichte 2016 eine neue CD, die teils freie Improvisationen enthält. Und zu seiner festen Band gehören einige der besten Musiker der jungen Szene. Darunter Christian Lillinger und Ronny Graupe von den ehemaligen Hyperactive Kid.