Chöre
Von Barock bis Pop – Chorgesang in Deutschland

Vom Volkslied bis zum Oratorium, vom Laiengesang bis zu professionellen Ensembles, von Kinder- bis zu Seniorenchören – im Chor zu singen, ist für Millionen von Menschen in Deutschland eine Leidenschaft.

Rundfunkchor Berlin; Rundfunkchor Berlin; | Copyright: Matthias Heyde Der Chorgesang hat in Deutschland eine lange Tradition. Bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts wurde er in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen in verschiedenen Organisationsformen mit vielfältigem Repertoire gepflegt – vom einfachen Lied bis zum großen Oratorium, vom schlichten Laiengesang bis zu professioneller Vokalkunst, von Kinder- bis zu Seniorenchören. In den 1960er- und 1970er-Jahren wandelte sich die Chorszene in Deutschland. Es veränderten sich Arbeitsformen, künstlerische Ansprüche, Zielsetzungen, institutionelle Zusammenarbeit und Repertoire. Im 19. Jahrhundert wirkten etwa Felix Mendelssohn und Johannes Brahms stilbildend auf das Chorrepertoire. Sie steuerten zu allen Gattungen der weltlichen und geistlichen Vokalmusik eigene Kompositionen bei, die immer noch häufig gesungen werden. Dennoch gibt es heute auch zahlreiche Chöre, die das traditionelle Repertoire durch Gospel, Jazz, Shanties oder Pop ergänzen.

Noch vor fünfzig Jahren traf man fast in jedem Dorf einen Kirchenchor und einen Gesangverein (als Männer- und/oder gemischten Chor). Inzwischen gingen die Zahl der Chöre und der singende Anteil an der Bevölkerung deutlich zurück. Auf der anderen Seite stiegen das Leistungsbewusstsein und die Anforderungen, die insbesondere neu gegründete Ensembles an sich und ihre Mitglieder stellen. Das gemeinschaftliche Singen ist heute nicht mehr unmittelbarer Teil und Ausdruck des gesellschaftlichen und geselligen Lebens. Es entspringt persönlichem Engagement, beruht auf einer individuellen Entscheidung, die sich mit einer bestimmten Ergebniserwartung verbindet. Die Chorszene, die noch weit bis ins 20. Jahrhundert kaum Berufsensembles kannte (Ausnahme: Opernchöre an großen Theatern), hat sich, wie das Kulturleben insgesamt, stark differenziert. Drei Gruppen lassen sich unterscheiden: professionelle Chöre, semiprofessionelle Chöre und Laienchöre; sie bilden bei weitem die größte Gruppe.

Professionelle Chöre

Bei den professionellen Chören handelt es sich im Wesentlichen um Opern- und (ehemalige) Rundfunkchöre. Die ersteren, die ältesten Einrichtungen beruflichen Chorgesangs, sind in der Regel auf ihre Theateraufgaben konzentriert; selten geben sie eigene Konzerte. Rundfunkchöre wurden wie Rundfunkorchester für Produktionen der jeweiligen Radiosender gegründet. Durch die Entwicklung der Medien ist diese Aufgabe in den Hintergrund getreten. Ihr Schwerpunkt liegt heute in öffentlichen Konzerten, die teils in eigener Regie, teils in Kooperationen mit Berufsorchestern und Festivals veranstaltet werden. Zwei Arten von Rundfunkchören lassen sich unterscheiden: große Chöre (Rundfunkchor Berlin, Chöre des Bayrischen Rundfunks, Westdeutschen Rundfunks und des Mitteldeutschen Rundfunks) und Kammerchöre (RIAS-Kammerchor, NDR Chor und SWR Vokalensemble). Beide setzen wesentliche Maßstäbe chorischer Gesangs- und Interpretationskultur. Beide erwarben sich große Verdienste um die zeitgenössische Musik, viele exponierte Werke wurden von ihnen aufgeführt, zum Teil auch angeregt. Die Kammerchöre profilierten sich außerdem auf dem Gebiet der historisch informierten Aufführungspraxis. Der Wirkungskreis der (ehemaligen) Rundfunkchöre ist durch Kooperationen, Festival-Einladungen und Gastspiele international.

Semiprofessionelle Chöre arbeiten mehrheitlich als Projektchöre, als Spezialensembles (etwa für Alte oder Neue Musik) oder als regelmäßig probende und konzertierende Kammerchöre. In ihren künstlerischen Maßstäben und Arbeitsmethoden unterscheiden sie sich nicht von professionellen Chören. Da ihre Mitglieder meist projektweise und deutlich geringer bezahlt werden als fest angestellte Berufssänger, gehen sie in der Regel einer anderen hauptberuflichen Tätigkeit (oft als Musiker oder Musiklehrer) nach. Zu den semiprofessionellen sind ihrem künstlerischen Anspruch nach auch die Spitzenensembles unter den Knabenchören zu rechnen, obwohl ihre Mitglieder für ihre Auftritte kein Honorar erhalten. Einige von ihnen wie die Regensburger Domspatzen, der Leipziger Thomaner-, der Dresdener Kreuzchor und der Berliner Staats- und Domchor gehören zu den ältesten Kultureinrichtungen in Deutschland mit einer Geschichte, die sechs-, siebenhundert, ja tausend Jahre zurückreicht. Auch wenn nicht alle von ihnen als Internatschöre organisiert sind, verlangen sie von ihren Sängern besondere musikalische und stimmliche Begabung sowie gute schulische Leistungen, die eine extensive Probenarbeit und die Teilnahme an Konzertreisen ohne Verluste in der Allgemeinbildung ermöglichen.

Laienchöre im Wandel

Laienchöre bilden die überwiegende Mehrheit der Singgemeinschaften in Deutschland. Ihrer Besetzung nach kann man sie einteilen in Männerchöre, Frauenchöre, gemischte Chöre, Kinder- und Jugendchöre, ihrer Trägerschaft nach in konfessionelle (Kirchenchöre und Kantoreien) und säkulare Chöre, die sich meistens nach dem deutschen Vereinsrecht konstituieren. Ihr gemeinsamer Ursprung liegt in der Zeit der Aufklärung und der frühen Romantik, also im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die bei weitem größte Gruppe bilden gemischte Chöre. Die besonders leistungsfähigen Ensembles unter ihnen haben teilweise eine längere Tradition (Kantoreien an großen Kirchen). Oratorienchöre wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Singakademien – bürgerlichen Bildungs- und Konzertvereinen – gegründet. Von ihren Mitgliedern erwarten sie solide Musikkenntnisse und geübte Stimmen. Die jüngeren Ensembles sind meist Kammerchöre von hoher Klangkultur und singen anspruchsvolle Vokalmusik aus Geschichte und Gegenwart, auch abendfüllende Werke. Die Grenzen zu professionellen Chören verlaufen dabei fließend. Die meisten Laienchöre sind heute im Deutschen Chorverband als Dachorganisation zusammengeschlossen. Er organisiert derzeit rund 23.000 Chöre mit rund 1,4 Millionen Mitgliedern.

Die Laienchorbewegung, wie sie in ihrer Breite Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstand, diente ursprünglich der Volksbildung. Sie erhielt in den 1920er-Jahren zusätzliche Schubkraft durch staatliche Reformen des Musiklebens ("Kestenberg-Reform") und durch die Singbewegung. Diese widmete sich nicht nur dem Volkslied, suchte durch "offenes Singen" die Basis für die Chöre zu verbreitern, sondern fand ihr Vorbild in der Vokalmusik aus Renaissance und Barock. So wurde sie zu einem wichtigen Wegbereiter der historischen Aufführungspraxis. Die Laienchorbewegung stammt aber auch aus einer Ära aktiver Freizeitgestaltung. Veränderungen in der Arbeitswelt, die Verlagerung der Freizeitprogramme hin zum Konsum, die Möglichkeiten neuer Medien und die Degradierung des Musikunterrichts und des Singens an den allgemein bildenden Schulen der Bundesrepublik (die DDR vollzog diese Reform nicht mit) waren neben der mangelhaften Aufarbeitung der NS-Politik gegenüber Chören und Chorverbänden für die "Chorkrise" in den 1960er- und 1970er-Jahren verantwortlich.

Heute muss sich die Chorszene in Deutschland wieder mit einer neuen Situation auseinandersetzen, denn in den großen Städten und Ballungsgebieten besteht die junge Generation - und damit der potentielle Chornachwuchs - zu einem großen Teil aus Kindern mit Migrationshintergrund. Diese soziale und kulturelle Umschichtung wird die wichtigste Herausforderung für die Zukunft des Chorgesangs in Deutschland darstellen.