Mülheimer Theatertage 2014
Autoren bleiben im Zentrum
Die Kritik an Nachwuchsautoren hat neuerdings Konjunktur – nicht so bei den Mülheimer Theatertagen. Im diesjährigen Wettbewerb um den Dramatiker- und den Kinderstückepreis setzen sich die Debütanten durch.

Die Mülheimer Theatertage, nach wie vor wichtigster Wettbewerb für deutschsprachige Dramatik, sind neben dem Heidelberger Stückemarkt somit das einzige Festival in Deutschland, das nicht in die modische Autorenkritik einstimmt. Es präsentiert auch im 39. Jahr die besten neuen Stücke einer Saison in ihrer Uraufführungs-Inszenierung.
Neue Festivalleiterin und neuer Moderator
Trotzdem hat sich in Mülheim jetzt einiges verändert. Bedingt durch die Erkrankung von Udo Balzer, 22 Jahre lang Leiter des Festivals, hat dessen langjährige Dramaturgin Stephanie Steinberg kurzfristig die Leitung übernommen. Als neuer Moderator führte Tilman Raabke, Chefdramaturg in Oberhausen, durch die Publikumsdiskussionen.Sieben Stücke waren eingeladen, die sich, so die Kritikerin Christine Wahl, die Sprecherin des Auswahlgremiums, alle mit dem „großen Ganzen“ beschäftigen, „dem gesellschaftlichen Status quo“. Die gesellschaftskritischen Komödien Du (Normen) von Philipp Löhle und Alltag & Ekstase von Rebekka Kricheldorf landeten beim Publikumsranking auf den Plätzen drei und zwei – die fünfköpfige Preisjury dagegen (Stephan Müller, Sebastian Rudolph, Christian Rakow, Eva-Maria Voigtländer, Christine Wahl), die in öffentlicher Debatte über den mit 15.000 Euro dotierten Dramatikerpreis entschied, kegelte diese Stücke mit fünf zu null Stimmen aus der Konkurrenz.
Publikum contra Juryvotum
Auch der Gewinner des Publikumspreises wurde von der Jury rasch verabschiedet: Qualitätskontrolle von Rimini Protokoll schildert die Lebensgeschichte der querschnittsgelähmten Maria-Cristina Hallwachs, die den Text selbst auf der Bühne spricht. Der Juror Sebastian Rudolph: „Das ist der großartigste Abend, den ich je gesehen habe” – doch der Text sei für ihn „kein Stück“. Obwohl Rimini Protokoll schon einmal, 2007, in Mülheim gesiegt hatte, sind die Debatten darüber, wann ein Dokumentarstück als künstlerisch eigenständiges Werk gilt, also noch in vollem Gang.Helgard Haug & Daniel Wetzel / Rimini Protokoll über ihr Stück „Qualitätskontrolle“ (Youtube)
Theorieaffiner waren dagegen die Stücke von René Pollesch, der schon zum sechsten Mal eingeladen war, und Ferdinand Schmalz, dem Mülheim-Debütanten. Schmalz assoziiert in seinem sprachmächtigen Volksstück am beispiel der butter ebenso viele Diskurs-Vorbilder wie Pollesch in Gasoline Bill. Vor allem Pollesch begeisterte die Jury: Für zwei Juroren war er der absolute Favorit.
Die Debütanten setzen sich durch
Durchsetzen konnte sich zuletzt aber der junge Wolfram Höll mit seinem Bühnengedicht Und dann. Wie auch Laura de Wecks Archiv des Unvollständigen kreist Hölls Text rätselvoll um eine Leerstelle – hier ist es die Abwesenheit der Mutter. Ein Kind erinnert sich an das Leben im Plattenbau kurz nach der Wende. In dieser Kinderperspektive, so die Jury, mache Höll „große formale und inhaltliche Möglichkeiten auf, dieses vermeintlich abgeschlossene und schon bestens in Spreewaldgurken verpackte Thema DDR noch mal zu öffnen“. Damit hat wieder, wie bereits 2013, ein Mülheim-Debütant mit seinem Erstling gewonnen.Dass das Publikum Texte und Aufführungen offensichtlich so ganz anders rezipiert als die Experten, sich bei Kricheldorf und Löhle wiederfindet und sich vom großen Einzelschicksal bei Rimini Protokoll bewegen lässt, kann natürlich nicht einfach als verbindliches Qualitätskriterium verstanden werden – doch manchem theorieverliebten Juror müsste das zu denken geben.