Informationstechnologie
„Die Bibliothek als Navigator“

Die Informationstechnologie verändert den Zugang zum Wissen und auch das Wissen selbst. Welche Rolle Bibliotheken angesichts der Beliebigkeit von Informationen spielen können, erklärt der österreichische Internetexperte Dr. Hans G. Zeger.
Herr Zeger, können Bibliotheken in Zukunft noch so etwas wie die Hauptlieferanten von Informationen aller Art sein?
Ich sehe Bibliotheken weniger als Lieferanten, denn als Vermittler. Vor dem Aufkommen der elektronischen Informationstechnologie in den Neunzigerjahren war das Wissensgut zwangsläufig ortsgebunden. Und es gab genau definierte Zugangskriterien, mit denen Informationen verbreitet wurden: Irgendwo haben Redaktionen ein gesichertes Wissen zusammengestellt – und das beanspruchte für sich eine gewisse Werkshöhe.
Gerade mit Web 2.0, den Social-Media-Plattformen, den Mitmachmöglichkeiten im Internet verschwinden die Grenzen zwischen den Wissenslieferanten einerseits und den Konsumenten andererseits. Zwischen diesen beiden Polen haben sich die Bibliotheken aber bisher als Vermittler gesehen. Heute sind mehr und mehr Konsumenten auch Produzenten und umgekehrt. Da wird sich die Bibliothek ganz neu definieren müssen.
Informationskompetenz fördern
Welche Rolle sollten die Bibliotheken Ihrer Meinung nach spielen?
Sie haben eine didaktische Aufgabe. Sie sollten den Benutzern des Internets Werkzeuge an die Hand geben, Informationen zu finden und kritisch zu bewerten. Mit dem Aufkommen der Informationstechnologie kam auch der Spruch: „Es ist nicht wichtig, etwas Bestimmtes zu wissen. Es reicht, wenn man weiß, wo man es findet.“ Das war damals völlig berechtigt: Es gab eine überschaubare Zahl von Zugangsmöglichkeiten zu Information. Und man hatte gute Chancen, damit sinnvolle Informationen zu finden.
Und das ist heute anders?
Heute gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie ich etwas suchen kann. Das Problem besteht gar nicht mehr darin, dass ich weiß, wo oder wie ich suche, sondern wie ich mich in diesem Meer von wichtigen und belanglosen Informationen zurechtfinde. Die Frage ist: Finde ich überhaupt die Information, die für mich relevant ist?
Nehmen Sie die Suchmaschine Google: Vor einer ganzen Weile hat Google seine Suche regionalisiert. Abhängig davon, in welcher Region ich beheimatet bin, habe ich bei der Suche nach bestimmten Begriffen ganz unterschiedliche Reihungen bekommen. Und seit 2009 wird die Suche personalisiert. Das heißt: Abhängig davon, was ich früher einmal gesucht habe, werden mir die Informationen in einer anderen Reihenfolge angezeigt als zum Beispiel meinem Nachbarn, obwohl wir den gleichen Begriff eingegeben haben. Das wird zu einem großen Problem: Unser Blick wird gefiltert durch Unternehmen mit bestimmten kommerziellen Interessen.
Einen unvoreingenommenen Blick ermöglichen
Was könnten Bibliotheken hier tun?
Hier könnte die Bibliothek einen Gegenpol schaffen, indem sie einen Zugang zur Informationswelt über objektivierbare Filter bietet. Die Bibliotheken sollten versuchen, uns einen freien Blick auf die Informationswelt zu verschaffen.
Ich habe das Problem einmal mit folgender Formulierung auf die Spitze gebracht: „Ich habe sechs Millionen Freunde und alle sind meiner Meinung.“ Wenn jeder einen individuellen Informationskanal bekommt, dann bekommt jeder irgendwann nur noch bestätigende Informationen. Das wäre aber das Ende unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Denn wir leben davon, dass wir immer wieder Neues, Überraschendes und unter Umständen Anstößiges erfahren. Das bringt uns dazu, über neue Zusammenhänge nachzudenken.
Eine zusammenführende Sicht einbringen
Sehen Sie noch andere Aufgaben für die Bibliotheken?
Es gibt ja auch eine archäologische Aufgabe. Früher hat man das Wissen zu einem bestimmten Thema in einem Buch zusammengefasst. Das Buch hat einen aufwendigen Prozess durchlaufen; es wurde geschrieben, lektoriert, gesetzt, gedruckt, ausgeliefert, archiviert und so weiter. Wenn ein solches Buch ein aktuelles Thema behandelt hat, dann war es meistens bei seiner Ankunft in der Bibliothek schon wieder veraltet. Aber der Vorteil war: Ich kannte damit zumindest den Wissensstand bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Für viele Aufgaben war das bei weitem ausreichend und sehr praktisch.
Heute strömt jeden Tag eine unglaubliche Flut von Informationsschnipseln auf uns ein. Es besteht keine Möglichkeit und bei den Produzenten auch gar kein besonderes Interesse daran, hier eine zusammenführende Sicht einzubringen. Das könnten Bibliothekare machen.
Sie meinen Projekte, in deren Rahmen Internetseiten zu einem bestimmten Zeitpunkt archiviert werden, wie es etwa die Nationalbibliotheken tun?
Ja, aber diese Projekte stecken alle noch in den Kinderschuhen. Doch es ist höchste Zeit. Wenn das nicht geschieht, könnte es uns passieren, dass wir diese ganzen Schnipsel nach wenigen Jahren eigentlich gar nicht mehr zusammenbringen. Und dann hätten wir paradoxerweise über die Zeit seit Beginn des Internets bis jetzt zu den neuen Entwicklungen gar keine zusammenhängenden Informationen. Natürlich wird es die gedruckten Bücher aus dieser Zeit später geben, aber in denen steckt ja längst nicht mehr das gesamte Wissen unserer Zeit.
Sehen Sie das Überleben von Bibliotheken gefährdet?
Ich glaube, das liegt sehr stark in den Händen der Bibliothekare selbst. Wenn die Bibliotheken sich als Navigatoren in einem Meer von Sinn und Unsinn profilieren, dann werden sie auch die Politik davon überzeugen, dafür genügend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen.