Welches Deutsch? Standardisierung
Deutsch und seine Normen

Deutsch und seine Normen
Deutsch und seine Normen | Illustration: Melih Bilgil

Vor allem in Deutschland, Österreich und Teilen der Schweiz ist Deutsch Standardsprache. Aber wie ist das Deutsche als Standardsprache entstanden? Und wie hat sich das Verständnis vom Standarddeutschen in den letzten Jahrzehnten verändert?

Abstract

Deutsch als Standardsprache ist eine historisch gewachsene Verkehrssprache, die ein Dialektkontinuum überdacht. Dabei wurden sowohl Orthographie, Wortschatz und Grammatik als auch Status und Verwendungskontexte standardisiert. Heute gilt Deutsch als „plurizentrische“ Sprache mit mehreren regionalen und nationalen Normen, die sich allerdings in aller Regel mehr statistisch als kategorisch unterscheiden.

Von Standardisierung spricht man dann, wenn eine ein Dialektkontinuum überdachende Verkehrs- bzw. Standardsprache entsteht. Gegenstand der Standardisierung ist die Sprache selbst, etwa in Form von Rechtschreibformen („corpus planning), aber auch ihr öffentlicher Status etwa als Schul- oder Amtssprache („status planning).

Im Fall des Deutschen hat dieser Prozess mehrere Jahrhunderte angedauert. Die Standardisierung begann im 15. und im 16. Jahrhundert mit einem überregionalen Sprachausgleich auf der Grundlage ostmitteldeutscher und ostoberdeutscher Varietäten. Danach wurde die Schriftsprache ausgebaut und in der Weimarer Klassik vereinheitlicht. Ab dem 19. Jahrhundert kann von einer „deutschen Standardsprache“ gesprochen werden.

WER SETZT DEN DEUTSCHEN STANDARD?

Anders als in Frankreich wird die Standardsprache im deutschen Sprachgebiet nicht von einer legitimierten Instanz gelenkt. Zwar gibt es regulierende Behörden wie die Kultusministerkonferenz in Deutschland, das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur in Österreich oder die Erziehungsdirektorenkonferenz in der Schweiz. Die heftigen Diskussionen um die Rechtschreibereform von 1996 haben jedoch deren mangelnde Durchsetzungskraft in der Öffentlichkeit und bei nichtstaatlichen Institutionen deutlich gemacht.

Dennoch gibt es natürlich auch für das Standarddeutsche anerkannte Wörterbücher und Institutionen, die Normen festhalten. So galt von 1955 bis 1996 der Rechtschreibduden in der Bundesrepublik Deutschland als maßgeblich für die amtliche deutsche Rechtschreibung. Zudem gibt es eine präferierte Aussprache (etwa „Bühnendeutsch“), einen verfassungsmäßigen Status als offizielle Sprache oder Nationalsprache etwa Deutschlands, Österreichs oder der Schweiz sowie einen legitimen öffentlichen Gebrauch. Und es gibt Dienstvorschriften für „amtliches Hochdeutsch“ von Beamten oder Lehrenden sowie einen literarischen Kanon.

STANDARDISIERUNG UND IDEOLOGIE

Die Standardisierung einer Sprache hat verschiedene Hintergründe und unterschiedliche Konsequenzen. Zunächst geht es pragmatisch um weiträumige Verständigung. Die Bibelübersetzungen Martin Luthers und Huldrych Zwinglis trugen zusammen mit dem Erfolg des Buchdrucks im gesamten deutschen Sprachraum zu einem Sprachausgleich auf schriftsprachlicher Ebene bei und erleichterten so die Verbreitung reformatorischer Ideen. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts begünstigte die Durchsetzung des Deutschen als Staatssprache die Bildung eines homogenen Wirtschaftsraums.

Darüber hinaus hat Sprachstandardisierung oft eine ideologische Dimension. Für das Deutsche gilt dies zunächst für die auf Johann Gottfried Herder basierende Idee einer Untrennbarkeit von „Staat“, „Nation“ beziehungsweise „Volk“ und „Sprache“, die zeitgleich mit der Ablösung der Dialekte durch das Standarddeutsche aufkam. Verstärkt wurde dies durch eine in der Zeit der Französischen Revolution entstandene republikanische Einheitsideologie, welche sich sowohl gegen die Dialekte als auch gegen die Regionalsprachen richtete. In beiden Fällen genießt die Standard- beziehungsweise „Staatssprache“ den Status der einzigen „legitimen“ Varietät; ihre mangelnde Beherrschung durch Sprecher von Soziolekten, Dialekten, Minderheitssprachen oder Sprachen der Immigration kann zu schweren Diskriminierungen führen, wie beispielsweise in Lettland nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991.

REGIONALSPRACHEN SIND IM KOMMEN

Tatsächlich ist die propagierte Homogenität einer Standardsprache in vieler Hinsicht Illusion. Gerade in Zeiten einer allgemeinen Globalisierung bieten Regionalsprachen, Regionalkulturen oder Herkunftssprachen dem Einzelnen neue, sichere Identifikationsangebote. Entsprechend gewinnen auch die regionalen Varietäten des Deutschen wie Niederdeutsch oder Plattdeutsch an Bedeutung. Ähnlich wie dies für das Englische oder Spanische schon seit langem bekannt ist, beobachtet man heute auch im Deutschen Prozesse der sogenannten Destandardisierung: Regionale oder soziale Formen der Sprachverwendung sind nicht nur statistisch häufiger geworden, sie können sogar prestigereicher werden als der (alte) Standard.

Im Falle des Deutschen wird die „Plurizentrizität“ der Sprache heute auch von normsetzenden Instanzen akzeptiert. Für das Schweizerhochdeutsch, also die in der Schweiz gebräuchliche Varietät des Standarddeutschen, gibt es eigene Rechtschreibeprogramme. Auch wird es in den Schweizer Medien und amtlichen Texten sowie im Schriftverkehr von Schweizer Firmen ohne Ausnahme fast ausnahmslos verwendet. Einige Begriffe im Duden sind als „schweizerisch“ deklariert. In Österreich war die Existenz eines eigenständigen österreichischen Standarddeutsch in den 1990er Jahren allerdings Gegenstand einer Kontroverse unter Sprachwissenschaftlern.

UNTERSCHIEDLICHE STANDARDS IM STANDARD

Es ist nicht übertrieben, von einer eigentlichen „Restandardisierung“ des Deutschen zu sprechen. Diese schlägt sich einerseits in variablen orthographischen Normen nieder („Spaghetti“ / „Spagetti“; „groß“ / „gross“ etc.), andererseits in Form von Publikationen wie dem 1951 erstmals erschienen „Österreichischen Wörterbuch“ über Duden-Publikationen wie „Österreichisches Deutsch” (2008), „Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des österreichischen Deutsch“ (2009) oder „Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz“ (2012) bis hin zu einer offiziellen Broschüre über „Österreichisches Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“ (2014).

Allerdings sind Zentrum und Peripherie bei plurizentrischen Sprachen nicht zwingend geographisch oder national zu verstehen. Zwar werden für das Deutsche häufig die Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz hervorgehoben (wobei es sich für die Schweiz nur um eine von vier Nationalsprachen handelt). Man vergisst dabei aber häufig, dass es auch innerhalb Deutschlands signifikante Unterschiede beispielsweise zwischen dem Norden und dem Süden gibt – aber auch und besonders, dass die Unterschiede fast ausnahmslos eher statistischer Natur sind. Als „österreichisch“ gelten Elemente, die außerhalb Österreichs zwar vorkommen, aber nur mit geringer Häufigkeit.

Darüber hinaus finden Prozesse der Destandardisierung als Folge von Zuwanderung und Generationenwechseln häufig auch in zentralen Ballungsräumen wie Großstädten statt, allerdings in der Regel ohne dass die neuen Formen auch kodifiziert würden. In soziolinguistischen Begriffen kann man allenfalls von „emergenten Varietäten“ sprechen.

Das Fehlen von generell verbindlichen Normen hat natürlich Auswirkungen auf den Unterricht. Deutsch als Standardsprache wird in den verschiedenen deutschsprachigen Regionen als Muttersprache und als Zweitsprache mit einem Schwergewicht auf den regionalen Normen unterschiedlich unterrichtet,. Bei Deutsch als Fremdsprache (DaF) können sich daraus Konflikte ergeben. Kontrovers wird etwa die Frage diskutiert, ob in der französischen Schweiz Schweizerhochdeutsch oder „Bundesdeutsch“ unterrichtet werden soll.
 

Literatur

Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner et al.: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, Walter de Gruyter 2004.

Besch, Werner: Standardisierungsprozesse im deutschen Sprachraum, Sociolinguistica 2, 1988, S. 186–208. [Wieder abgedruckt in Besch, Werner: Deutsche Sprache im Wandel. Kleine Schriften zur Sprachgeschichte. Frankfurt am Main 2003, S. 257–284.

Clyne, Michael G.: Pluricentric Languages: Differing norms in different nations. Berlin, Mouton de Gruyter 1992.

Kloss, Heinz: Research Possibilities on Group Bilingualism. Quebec, International Center for Research on Bilingualism 1969.

Muhr, Rudolf (Hrsg.): Standardvariationen und Sprachideologien in verschiedenen Sprachkulturen der Welt. Frankfurt am Main, Wien (u.a.), Peter Lang 2005.

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