Zweieinhalb Monate ist mein erster Besuch in Prag nun her. In der ersten Weltenschreiber-Werkstatt hier haben wir – der Lehrer Ondřej Špaček vom Thomas Mann Gymnasium, die Schüler*innen und ich – uns mit literarischen Kurzübungen sowie mit der Planung unserer weiteren Arbeit beschäftigt.
Die Entscheidung der Gruppe lautete damals: Wir wollen einen Roman schreiben. Aber einen, der aus kleinen Einzelteilen besteht, die lose zusammen hängen.
Diesen Roman wollten wir nun auf den Weg bringen. Ondřejs und mein Plan: Die Schüler*innen in die Lage versetzen, mit der Arbeit an ihrer jeweiligen Geschichte / ihrem jeweiligen Kapitel zu beginnen. Vielleicht könnten sie während der beiden Tage im Prager Goethe-Institut ja sogar schon mit dem richtigen Schreiben beginnen.
Kleine Brötchen.
Das war unsere Devise.
Lieber nicht zu viel auf einmal verlangen. Die Sache soll ja Spaß machen und niemanden unter Druck setzen.
Entsprechend haben wir am ersten Tag vorsichtig begonnen. Mit einer kleinen Schreibübung. Mit einer Auffrischung dessen, was bislang diskutiert worden war. Mit einer gemeinsamen Runde, in der die Ideen für die einzelnen Geschichten besprochen und erste Verbindungsmöglichkeiten zwischen diesen Geschichten ausgelotet wurden.
Die Ideen waren sehr vielversprechend.
Aber als wir dann langsam vorfühlten, wie denn die Einzelgeschichten zusammenhängen könnten, herrschte ein wenig Ratlosigkeit.
Wohlwollende Ratlosigkeit. Die Art von Ratlosigkeit, die in einer Schreibwerkstatt manchmal herrscht und in der die Teilnehmer*innen mit Gesichtern dasitzen, die stumm, aber sehr deutlich sprechen:
Wir hören Sie, Herr Rau, wir wollen uns auch gerne auf alle Experimente einlassen, die Sie da vorschlagen. Aber wir haben nicht die geringste Ahnung, wovon Sie gerade sprechen.
Ondřej und ich taten unser Bestes, um Optimismus zu verbreiten.
Das wird schon. Sobald die Ideen Text werden und wir über Konkretes sprechen, ergibt sich auch eine Vorstellung von Zusammenhängen.
Dann kam das Mittagessen. Es wurde angeregt diskutiert. Gelacht. Noch mehr diskutiert. Allerdings auf Tschechisch. Ich verstand kein Wort. „
Die reden über ihre Geschichten“, sagte Ondřej.
Ich nickte. Das ist schon mal nicht schlecht, dachte ich. Wenn beim Mittagessen über den Inhalt der Werkstatt gesprochen wird, ist das immer ein gutes Zeichen.
Danach: Speed-Dating. Okay, das ist vielleicht ein etwas schräger Titel für eine literarische Übung. Aber wenn das Prinzip nun mal so ist, darf man die Dinge beim Namen nennen. Die Aufgabe bestand darin, sich in Zweiergruppen über mögliche Verbindungen zwischen den jeweiligen Geschichten auszutauschen.
„
Lasst euch ruhig etwas Verrücktes einfallen“, sagten wir der Gruppe. „
Es ist euer Roman, ihr müsst niemandes Regeln befolgen.“
Wir stoppten die Zeit. Immer zehn Minuten. Dann Wechsel. Partnerwechsel, wenn man so will. Oder: Geschichtenwechsel. So ging das zwei Mal. Ein drittes Mal.
Dann plötzlich: Rufe quer durch den Raum. Eine Schülerin vom Tisch rechts vorne rief etwas zu den beiden Mitschüler*innen am Tisch rechts hinten. Von dort wurde zurückgerufen. Dann ging’s von links hinten grade weiter. Wieder quer durch den Raum. Allgemeines Gelächter. Wieder Rufe. Gegenrufe. Alles auf Tschechisch, natürlich.
„Herr Rau, wir müssen die Übung beenden und alle an einen Tisch“, sagte dann eine Schülerin.
Ich hatte nichts einzuwenden.
Tja, und was dann folgte, hat mich ehrlich gesagt sprachlos gemacht. Ich sah, wie die Diskussion, die ohnehin schon hitzig begonnen hatte, noch mehr Fahrt aufnahm. Es wurde immer aufgeregter diskutiert, immer mehr gelacht, es wurde begeistert dazwischen gerufen und in die Hände geklatscht. Ich verstand kein Wort, aber ich verstand, dass da etwas geschah. Anfangs dachte ich noch, das wird gleich wieder vorbei sein, wenn sich die offensichtlich strittigen Fragen geklärt haben.
Es war aber nicht gleich wieder vorbei. Eine halbe Stunde ging vorbei. Eine Stunde.
Ondřej und ich verließen den Raum und setzten uns in die Cafeteria des Goethe-Instituts. Eineinhalb Stunden. Hin und wieder kam eine Schülerin oder ein Schüler aus unserem Raum, um auf die Toilette zu gehen. Ansonsten waren von dort aber nur die aufgeregten Stimmen und das Gelächter zu hören. Dann, nach zwei Stunden: „
Herr Špaček, Herr Rau, jetzt können Sie wieder reinkommen, dann stellen wir Ihnen unseren Roman vor.“
Und das taten sie dann. Eine halbe Stunde lang, in einer wilden Mischung aus Deutsch und Tschechisch, dröselten sie ihren komplett durchdachten und von unzähligen Zusammenhängen durchzogenen Roman auf. Zeigten uns Stammbäume und Schaubilder, eine Zeitachse, die vom fünfzehnten Jahrhundert bis zum Jahr 2030 reichte.
Am Ende waren wir wie erschlagen. Wir alle. Die Schülerinnen und Schüler, weil sie sich zusammengerechnet über drei Stunden die Köpfe zerbrochen und heiß geredet hatten. Ondřej und ich, weil wir um Fassung rangen.
Was, bitteschön, war da grade eben geschehen?
Ich will verflucht sein, wenn ich behaupte zu wissen, was diese Dynamik ausgelöst hat. Aber ich werde noch lange von dem Gefühl zehren, das sie bei mir hinterlassen hat.
Wir haben an diesem gestrigen ersten Tag unserer zweiten Werkstatt mehr geschafft, als wir uns für beide Tage insgesamt erhofft hatten. Und heute, am Tag danach, sind die Schüler*innen voller Motivation ins Schreiben eingestiegen.
Ich kann nun nicht behaupten, dass wir damit schon am Ziel all unseres Tuns angekommen wären. Romane müssen nicht nur erdacht, sondern auch geschrieben werden, und das ist eben eine anstrengende, manchmal auch frustrierende und langwierige Tätigkeit. Doch ganz egal, was jetzt folgt und wie die einzelnen Kapitel am Ende aussehen werden, hat jede*r Einzelne erlebt, wozu eine Gruppe in der Lage ist, wenn alle für ein paar Augenblicke jede Vorsicht und jede Zurückhaltung beiseite lassen und einfach mal drauflos spinnen.
Mir als Workshopleiter hat all dies vor allem zwei Dinge vor Augen geführt:
- Es lohnt sich, diese ersten Momente der Ratlosigkeit auszuhalten und ihnen auch Raum zu geben. Natürlich ist die Situation ungewohnt, gemeinsam an einem kreativen literarischen Produkt zu arbeiten. Man gibt immer eine Menge von sich preis, wenn man Geschichten schreibt. Und wenn das schon einsam im stillen Kämmerlein zu Verunsicherung führt, wie ist es dann erst, wenn eine ganze Gruppe von Mitstreiter*innen dranhängt?
- Zum Ideensammeln und Schreiben gehört immer auch eine Portion Magie. Eine Energie, die aus dem Moment heraus entsteht, die man vielleicht begünstigen, niemals aber herbeizwingen kann.
Auch diesmal fahre ich mit einem guten Gefühl von Prag nach Stuttgart zurück. Ondřej Špaček und ich sind uns nach diesen zwei Tagen einig in der Einschätzung, dass wir weit mehr erreicht haben, als wir uns noch gestern Morgen erhofft hatten. Ein großer Dank geht an die Schülerinnen und Schüler der Gruppe, die sich auf uns und unsere Methoden eingelassen haben. Ein ebenso großer Dank geht ans Goethe-Institut in Prag, speziell an Thomas Freundorfer, der uns wieder hervorragend begleitet und versorgt hat.
Ich bin gespannt, was in den nächsten Wochen sein wird, wenn die Gruppe selbständig weiterarbeitet und wir über die Ferne in losem Kontakt stehen. Im April jedenfalls wollen wir dann beim dritten und letzten Weltenschreiber-Treffen in Prag einen Roman vollenden. Ich freue mich drauf.
Tilman Rau