Algorithmen
Wir bauen sie, sie prägen uns

Elektrische Waschmaschine um 1930, Museum Industriekultur, Nürnberg
Waschmaschinen sollten Frauen eine Menge Arbeit ersparen | Foto (Detail): Helmut Meyer zur Capellen © picture alliance/imageBROKER

Technische Fortschritte versprechen viel und lösen oft etwas ganz anderes ein. So war es Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Waschmaschine und so könnte es heute mit der Künstlichen Intelligenz geschehen.

Von Lorena Jaume-Palasí

Die Waschmaschine sollte Anfang des 20. Jahrhunderts als neue Technologie der Frau jede Menge Arbeit ersparen und Frauen in den Arbeitsmarkt integrieren. Sie wurde zu einer Technologie der Befreiung deklariert. Als Ausdruck des Willens des Menschen, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen und diese zu gestalten. Die Waschmaschine entstand als Folge tieferer sozio-ökonomischer Veränderungen: Zunächst revolutionierte die Baumwolle im 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht den Arbeitsmarkt – auch für Frauen. 

Neue Materialien – neue Herausforderungen

Die zuvor am häufigsten gebräuchlichen Textilien – zum Beispiel Wolle oder Leinen – mussten ausgeklopft werden. Mit der Einführung von Baumwolltextilien in der Kleidungsindustrie entstanden neue Reinigungsanforderungen und -herausforderungen. Die Mehrheit der Haushalte verfügte nicht über fließendes Wasser. Das Waschen der Kleider war nicht nur Frauenarbeit. Die Frauen benötigten die Assistenz von Haushaltshelfern oder weiteren Familienmitgliedern – in der Regel Männern – die das Feuerholz spalteten und große Waschgefäße in das Haus tragen mussten. Im Durchschnitt wurden ein bis zwei ganze Arbeitstage pro Haushalt für die Reinigung der Wäsche aufgewendet.
 
Die neuen sozioökonomischen Entwicklungen förderten die Integration der Frau in die Arbeitswelt außerhalb ihres eigenen Haushalts – jedoch setzten sie zugleich die sozialen Asymmetrien und Diskriminierungen fort. Die Einführung der Waschmaschine sollte Arbeitszeit sparen und Frauen mehr Zeit bieten, um sich anderen Tätigkeiten zu widmen. Die Waschmaschine würde, so das Versprechen, die gesundheitliche Gefährdung der Frauen reduzieren, die von ätzenden Seifen und Substanzen ausging. 

Zukunftsprognosen

Ähnlich wird heute in positiven Szenarien über die Zukunft der Arbeit mit Künstlicher Intelligenz argumentiert: Algorithmen sollen Zeit einsparen. Der Mensch werde durch die Assistenz von automatisierten Programmen und Maschinen mehr Zeit haben, um sich dem Denken und höheren Aufgaben widmen zu können. Es gibt mittlerweile unzählige Studien über die Zukunft der Arbeit, der Gesellschaft und der Demokratie im Zeitalter von Technologien wie der Künstlichen Intelligenz. Der Hauptfokus der Prognosen richtet sich dort auf eine Kalkulation der Arbeitsstunden, die mit algorithmischen Systemen gespart werden können – was, je nach Berufsprofil, die Einsparung von Arbeitsplätzen bedeutet.
 
Auch die grenzenlose Reichweite von Informationen, die digital hergestellt und verbreitet werden können – ihre erhöhte Disseminationsgeschwindigkeit und die potenziellen gesellschaftlichen Effekte – stehen in Mittelpunkt von Hypothesen. Es wird dann spekuliert, wie die Berufsprofile von Menschen aussehen müssen, die an der Seite von Programme oder Maschinen arbeiten sollen. Es wird reflektiert über die Chancen und Herausforderungen, die algorithmische Systeme mit ihrer Mathematisierung und Automatisierung der Welt ermöglichen. (Zeitliche) Effizienz und Überschreitung der geografischen, sprachlichen oder physikalischen Grenzen stehen im Mittelpunkt sowohl der Anreize für die Entwicklung neuer Dienstleistungen als auch der Kritik. Die Narrative über algorithmischen Systemen changieren zwischen Dystopie und Utopie. Größtenteils ist der Fokus auf ebendiese Überschreitungen die Ursache falscher Erwartungen.
 
Die Waschmaschine ersparte den Menschen in der Tat Zeit. Durch die Kombination von Strom und fließendem Wasser konnten genau die Tätigkeiten im Prozess des Waschens durch die Maschine ersetzt werden, die im Haushalt in der Regel von Männern ausgeführt wurden. Somit wurde die Wäschereinigung zur ausschließlich weiblichen Tätigkeit. Die Kommerzialisierungsstrategie der Waschmaschine führte das Waschen der Wäsche zurück zu der Sammlung vornehmlich weiblicher Haushaltsaufgaben. 

Die Waschmaschine setzte Hygienestandards – und brachte neue Anforderungen

Die Waschmaschine zeigt, wie relational die Frage der aufgewendeten Zeit im Haushalt betrachtet werden kann. Die Waschmaschine führte nicht mehr Frauen in die Arbeitswelt und relational betrachtet, ist es nicht einmal sicher, wie viel Zeitersparnis sie tatsächlich brachte. Rückblickend betrachtet, war die Waschmaschine – ihr Design und die Kommerzialisierungsstrategie – Ausdruck einer sozialen Vorstellung, die Frauen in den Haushalt, und nicht in die Arbeitswelt, einordnete. Die Waschmaschine führte zu höheren Sauberkeitsstandards im Haushalt und brachte neue Aufgaben und Standards für die Tätigkeiten im Haushalt mit sich.
 
Für die flächendeckende kommerzielle Ausbreitung der Waschmaschine sind auch die Umstände der Nachkriegszeit bedeutend. Die Männer kehrten zurück aus dem Krieg und die massive Integration der Frauen in die Universitäten und die Arbeitswelt, die während des Krieges zu beobachten war, ging zumindest im Westen zurück. Die Waschmaschine verstärkte durch ihr Design und die Entscheidungen in der Standardisierung die gängigen sozialen Vorstellungen über die Rolle der Frau. 

Algorithmen: Automatisierung sozialer Prozesse

Die algorithmischen Systeme hinter komplexeren Softwareprogrammen sind ähnlich zu bewerten. Mit ihnen werden soziale Prozesse teil- oder vollautomatisiert. Die Anbieter entscheiden vorab, welche Datenformate und möglichen Handlungsoptionen in einem Prozess existieren und die Software führt je nach Interaktion mit dem Nutzer eine der Optionen aus. Sie mathematisieren soziale Prozesse und setzen sie in Programmier-Codes um. Somit sind sie Ausdruck sozialer Vorstellungen und enthalten politische Entscheidungen. Ähnlich wie bei den Entscheidungen über das Design der Waschmaschine, stecken im Algorithmus viele verdeckte Annahmen über die Welt und die Nutzer, die solche Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Gleichzeitig zeigen uns Algorithmen oft soziale Mechanismen, über die wir nur bedingt reflektiert haben. Diese Technologien basieren auf sozialen Bedürfnissen und bedienen diese: Wir bauen sie und sie prägen uns. Künstliche Intelligenz ist Ausdruck unserer Kultur und unseres Willens, die Zukunft gestalten zu wollen.
 
Wenn die Vergangenheit etwas über die Effekte der Einführung von Technologien zeigt, dann, dass diese allein keine sozio-wirtschaftlichen Veränderungen per se erbringen, sondern ebenfalls oder gar in erster Linie Ausdruck und Mittel von Macht und Machtopportunitäten sind. Deren Entwicklungen sind weniger zufällig, sondern viel eher Ausdruck des inhärenten politischen Charakters von Design und Standards eskalierender Technologien.
 
Der Blick auf gesellschaftliche Asymmetrien und tradierte Bilder, auf denen die gesetzlichen Möglichkeiten und Einschränkungen und die sozioökonomischen Bedürfnissen basieren, wird entscheidend sein, um zu verstehen, wie algorithmische Systeme in der Gesellschaft konzipiert und eingebettet werden. Künstliche Intelligenz ist eine Chance, die Welt durch Mathematik anders zu kartografieren und zu verstehen, soziale Prozesse zu automatisieren und dadurch diese organisatorisch anders zu ordnen. Zeitersparnis und Grenzüberschreitung allein werden die Gesellschaft der Zukunft nicht verändern. Der Raum für Veränderungen wird von den legalen, sozialen und ökonomischen Praktiken und Visionen abhängen, die uns als Gesellschaft prägen.

 

Kultursymposium Weimar 2019 (Logo) | © Goethe-Institut ©   Kultursymposium Weimar 2019 (Logo) | © Goethe-Institut
​​​​​​​Kultursymposium Weimar 2019

Lorena Jaume-Palasí war Teilnehmerin des Kultursymposiums Weimar im Jahr 2019. Unter dem Titel „Die Route wird neu berechnet“ versammelte das Symposium Gäste aus aller Welt, um sich über die großen Umbrüche unserer Epoche auszutauschen.

Die Route wird neu berechnet – Kultursymposium Weimar 2019

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