Lernumgebungen und Formen des Lernens: Lehr- und Lernorte
Schauplätze des Deutschlernens

Schauplätze des Deutschlernens
Schauplätze des Deutschlernens | Illustration: Melih Bilgil

Oft wird Deutsch nicht nur im Unterrichtsraum, sondern an vielen verschiedenen Schauplätzen gelernt. Welche Funktion können diese Schauplätze übernehmen? Und welcher Stellenwert kommt dem Kursraum im Netz der Lern- und Lehrorte zu?

Abstract

Lehr- und Lernorte sind Schauplätze, die Lernenden Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen. Fremdsprachenkenntnisse werden zumeist in einem Netz von Lehr- und Lernorten  erworben. Im Zentrum steht dabei, wenn auch nicht immer, der Unterrichtsraum. Dort kommt den Lehrenden die Aufgabe zu, alle anderen Lernorte systematisch und produktiv mit ihrem Unterricht zu verknüpfen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass nicht nur Lehrende und Lernende den Stellenwert der jeweiligen Lehr- und Lernorte unterschiedlich bewerten, sondern dass die Erwartungen an die Funktionen von Lehr- und Lernorten sich je nach Interessenslagen auch von Lernendem zu Lernendem deutlich unterscheiden können.

Spracherwerb findet ausschließlich im Kopf der Lerner statt: Das war noch bis in die 1990er Jahre die dominierende Überzeugung in der Zweitspracherwerbsforschung. Wenn dem so wäre, dann wären Lehr- und Lernorte tatsächlich weitgehend austauschbar: Kurssitzungen könnten jederzeit problemlos in andere Räume verlegt, Präsenzangebote jederzeit auch als „Blended Learning“ realisiert oder gar durch sogenannte rein „virtuelle“ Kurse ersetzt werden (vgl. Beitrag Althaus). Die Funktion von Lehr- bzw. Lernorten würde sich im Wesentlichen auf die Bereitstellung von lernförderlichem Input reduzieren.

Diese auf generativistische und kognitivistische Spracherwerbtheorien zurückgehende Sichtweise hat die Fremdsprachendidaktik glücklicherweise bereits mit der sogenannten kommunikativen Wende in den 1970er Jahren hinter sich gelassen. Seither hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Lernende nur dann handlungsfähig in der Zielsprache werden können, wenn sie im Fremdsprachenunterricht Gelegenheit erhalten, sich in Kommunikationssituationen als sprachlich Handelnde zu erfahren. Lehr- und Lernorte sollten demnach so gestaltet sein, dass sie den Lernenden entsprechende Erfahrungen ermöglichen.

Die baulichen und räumlichen Gegebenheiten der Lehr- und Lernorte bilden hierfür zwar eine wichtige Voraussetzung; entscheidend ist aber deren didaktische Ausgestaltung. Was und wie im Kursraum gelehrt und gelernt wird, wird maßgeblich von curricularen Vorgaben oder didaktischen Konzeptionen bestimmt: Konzeptionen, die ihrerseits weitgehend auf gesellschafts- und bildungspolitischen Entscheidungen beziehungsweise Vorgaben basieren.

LEHR- UND LERNORTE SIND SCHAUPLÄTZE

Lehr- und Lernorte sind keine neutralen Treffpunkte, an denen Fremdsprachenwissen gesteuert gelehrt und gelernt sowie sprachliches Handeln eingeübt wird. Vielmehr legen die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten von sich aus bereits spezifische Formen der Unterrichtsinteraktion nahe. Ein Kursraum mit flexiblem Mobiliar etwa fordert geradezu zum Einsatz unterschiedlicher Sozialformen auf. Ob die vorhandenen Möglichkeiten zur Gestaltung eines kommunikativen, handlungsorientierten Lehr- und Lernorts genutzt werden, bleibt letztlich natürlich der Lehrkraft überlassen. Ein lehrerzentrierter Kursraum aber, in dem die Tische der Lernenden womöglich auch noch fest verschraubt sind, setzt den Bemühungen der Lehrenden, den Unterricht kommunikativ zu gestalten, allein aufgrund seiner räumlichen Verfasstheit bereits Widerstand entgegen. In solchen Fällen macht sich der Einfluss des Lehr- und Lernorts auf die Unterrichtsgestaltung deutlich bemerkbar: Es besteht die Gefahr, dass Lehrende die zusätzliche didaktisch-methodische und möglicherweise organisatorische Belastung, die die Umsetzung von kommunikativen beziehungsweise offenen Unterrichtsformen unter solchen Bedingungen nach sich ziehen würde, scheuen und stattdessen ihre Unterrichtsgestaltung lieber den räumlichen Gegebenheiten anpassen.

Lehr- und Lernorte sind keine neutralen Treffpunkte oder Räume. Es sind Schauplätze, an denen Lernenden Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten geboten, bisweilen aber auch versagt werden. Das wird bei offenen und kreativen Unterrichtsformen vollends klar. So kann Projektarbeit die Zielsprache wirklichkeitsnah und handlungsorientiert vermitteln und neue fremdsprachliche Erfahrungen eröffnen. Rollenspiele und Theaterprojekte fungieren gewissermaßen als virtuelle (also der Möglichkeit nach wirkliche) Schauplätze, auf denen sich Lernende als Akteure erfahren. Diese Schauplätze bieten ihnen Gelegenheit, sich in der Zielsprache spielerisch mit Kommunikationssituationen auseinanderzusetzen, gegen Rollenzuweisungen zu wehren oder eigene Rollenvorstellungen mit denen der fremden zielsprachlichen Kultur zu vergleichen. So verstanden können Lehr- und Lernorte Erfahrungen mit der Zielsprache und der zielsprachlichen Kultur ermöglichen, die über die Aneignung kommunikativer Kompetenz hinausgehen.

DAS NETZ DER LEHR- UND LERNORTE

Fremdsprachenlernen findet in der Regel an mehreren, teils sehr verschiedenen Lehr- und Lernorten statt. Hierzu gehört neben dem Kursraum der häusliche Arbeitsplatz ebenso wie die Bibliothek, die Lernwerkstatt oder die digitale Lernumgebung, aber auch der Besuch im Zoo oder im Betrieb. Lehrenden kommt die Aufgabe zu, all diese Lernorte systematisch und produktiv mit dem Unterricht zu verknüpfen. Sie müssen sich die Frage stellen, welche Kompetenzen ihre Lernenden an den anderen Lernorten erwerben können und mit welchen Methoden und Sozialformen sie die Lerngelegenheiten, die diese Lernorte eröffnen, für den Unterricht, aber auch für das selbstgesteuerte Lernen nutzen können.

Dies kann auf vielfältige Weise geschehen. So dient der Arbeitsplatz zu Hause häufig der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Lernwerkstatt und Bibliothek hingegen sind selbstständigen, nicht selten kooperativen Lernaktivitäten vorbehalten, die den Unterricht quantitativ und qualitativ erweitern. Wie der Computerraum, so bieten auch sie mit ihrem Medienangebot erweiterte Zugänge zur Zielsprache und –kultur. Wichtig sind aber auch Erfahrungen mit Zielsprachensprechern, und zielkulturellen Verhaltensweisen (etwa beim Besuch des deutschen Betriebs oder des deutschen Konsulats) oder doch zumindest mit zielkulturellen Erzeugnissen (zum Beispiel in der deutschen Bäckerei, im deutschen Restaurant oder im Zeitungsladen mit deutschen Presseprodukten). Zudem ermöglichen Aufenthalte im Zielsprachenland, Begegnungen mit Zielsprachensprechern und mit der landestypischen Kultur und Gesellschaft. Diese Erfahrungen an Lernorten in der zielsprachlichen Umgebung können einen in jeglicher Hinsicht prägenden Einfluss auf die weiteren Sprachlernaktivitäten der Lernenden und auf deren Sprachentwicklung haben.

UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN

Die von der kommunikativen Didaktik seit den 1970er Jahren ins Zentrum des Lehr- und Lernprozesses gerückte Kommunikation im Kursraum stellt somit nur einen kleinen Ausschnitt aus einem mehr oder weniger komplexen Netz von Schauplätzen des Lehrens und Lernens dar. Aus der Sicht der Lehrenden ist der Kursraum als ihr Hauptarbeitsplatz der zentrale Lernort, von dem aus sie die an anderen Lernorten stattfindenden Aktivitäten beurteilen und in ihre didaktischen Überlegungen miteinbeziehen.

Auch wenn der Unterricht im Kursraum für die meisten Lernenden eine Ankerfunktion für ihre Sprachentwicklung hat, wird die Bedeutung der Lernorte im umrissenen Netz von ihnen nicht selten anders gewichtet. So wollen einige Lernende im Fremdsprachenunterricht nur spezielle Fertigkeiten trainieren oder bestimmte Inhalte erarbeiten (beispielsweise, um sich auf Prüfungen vorzubereiten), während sich ihre Hauptlernaktivität auf einen anderen Lernort konzentriert (etwa auf ein Theaterprojekt). Zudem verändert sich das Netz der Lernorte normalerweise im Verlauf der individuellen Sprachentwicklung: ein Lernort verliert an Bedeutung, ein anderer tritt in den Vordergrund, einer neuer wird entdeckt. Der Besuch des Lernorts Kursraum markiert dann vielleicht nur eine Etappe für langfristig verfolgte und weitergehende Ziele, zum Beispiel den Wunsch, nach erfolgreichem Abschluss ein Studium im Zielsprachenland zu beginnen.

Lehr- und Lernorte sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen als Schauplätze für das Deutschlernen gestaltet werden. Hier sind zunächst die Lehrenden gefordert, unter den gegebenen institutionellen und curricularen sowie räumlichen Rahmenbedingungen vom Kursraum aus das Netz der Lernorte mit dem Ziel der Nutzung vielfältiger Erfahrungsräume zu organisieren. Gefordert sind aber auch die Bildungsinstitutionen, die nicht nur für die optimalen baulichen sowie räumlichen Voraussetzungen von Lehr- und Lernorten verantwortlich sind, sondern auch für die Unterstützung der Lehrenden bei deren Bemühungen, auch unter schwierigen räumlichen Bedingungen und organisatorischen Voraussetzungen ein für ihre Lernenden produktives Netz von Lehr- und Lernorten zu gestalten.

 

Literatur

Legutke, Michael: „Lehr- und Lernort.“ In: Surkamp, Carola (Hrsg.). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: Metzler 2010, 171-175.
 
Swain, Merill; Kinnear, Penny; Steinman, Linda: Sociocultural Theory in Second Language Education. An Introduction Through Narratives. Bristol et al.: Multilingual Matters 2011.
 
Walz, Heidi: „Überall ist Sprache – außerschulische Lernorte verbinden“. In: Frühes Deutsch 26 (2012), 5-9.