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Sexualität heute

Foto/Courtesy: Renhang (任航)

Nach drei sexuellen Revolutionen im Westen stellt Professor Volkmar Sigusch die Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Sexualität und ihren verschiedenen Spielformen.

In den westlichen Ländern ereigneten sich bisher drei sexuelle Revolutionen. Die erste erfolgte um 1905, die zweite um 1968 und die dritte, die ich die neosexuelle Revolution genannt habe, begleitet uns eher unauffällig seit dem Ende der 1970er Jahre.Herrschte früher, insbesondere um 1968, die Illusion vor, durch die Befreiung der Sexualität könnte die ganze Gesellschaft befreit werden, wandte sich die neosexuelle Revolution den bestehenden Problemen sehr viel realistischer zu. Es ging jetzt konkret um Frauen- und Minderheitenrechte, um Sexualaufklärung, sexuelle Gewalt, Missbrauch und den Umgang mit der Krankheit AIDS. Seither steht Sexualität nicht mehr für Rausch, Ekstase und Transgression. Sie hat ihre alte Sprengkraft verloren, nicht zuletzt aber auch durch ihre permanente öffentliche und kommerzielle Zerstreuung. Heute ist im Internet mehr sexuell Intimes veröffentlicht, als sich ein fantasiebegabter Einzelner vorzustellen vermag.

Insgesamt ist die Lage paradox. Einerseits sind neue Möglichkeiten und Freiräume gewonnen worden, andererseits aber ist das sexuelle Elend nach wie vor gewaltig. Viele Menschen sind sehr einsam, finden nicht die richtigen Partner, haben überhaupt keine erotischen oder sexuellen Begegnungen oder sind sehr lustlos. Nach empirischen Studien in Deutschland ereignen sich 95 Prozent der sexuellen Akte in festen Beziehungen. Singles, die 25 Prozent der Befragten stellen, müssen sich mit 5 Prozent der Akte begnügen. Ein Ergebnis dieser Verteilung ist, dass 60-Jährige in festen Beziehungen häufiger sexuell verkehren als 30-jährige Singles.

Zu den ganz besonders erfreulichen Entwicklungen gehört, dass die weibliche Sexualität, die zuvor jahrhundertelang patriarchal missachtet und frigidisiert worden ist, inzwischen eine Renaissance erlebt hat. Heute geben junge Frauen in Beziehungen sexuell den Ton an und wissen, dass sie im Grunde sexuell potenter sind als Männer, auch körperlich. Ein anderer Erfolg der neosexuellen Revolution ist die rechtliche Anerkennung lesbischer und schwuler Lebensformen. Von allen Neosexualitäten ist die Homosexualität kulturell die erfolgreichste. In Deutschland können heute bekennende Lesben und Schwule höchste Staatsämter einnehmen.

Dadurch, dass inzwischen Vorlieben und Sonderbarkeiten, die früher als unaussprechlich und pervers galten, öffentlich nachhaltig verhandelt worden sind, hat sich die Grenze zwischen Normalität und Anormalität, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit beträchtlich verschoben.

Selbstpraktiken wie beispielsweise fetischistische oder sadomasochistische, die früher als krank angesehen worden sind, werden heute mit großer Selbstverständlichkeit als etwas Eigensinniges inszeniert. Die alten Perversionen wurden gewissermaßen diskursiv aufgelöst und als normalisierte Lüste neu installiert.

Diese sind insofern typische Neosexualitäten, als das triebhaft Sexuelle im alten Sinne nicht mehr im Vordergrund steht. Sie sind zugleich sexuell und nonsexuell, weil Selbstwertgefühl, Befriedigung und Homöostase nicht nur aus einer paraperversen Fetischisierung, aus der Mystifikation der Triebliebe und dem Phantasma der orgastischen Verschmelzung beim Geschlechtsverkehr gezogen werden, sondern ebenso oder stärker aus dem Thrill, der mit der nonsexuellen Selbstpreisgabe und der narzisstischen Selbsterfindung einhergeht. Außerdem oszillieren sie zwischen fest und flüssig, identisch und unidentisch und sind oft sehr viel passagerer als ihre fixierten Vorgänger.

Die alte Sexualität, die ich Paläosexualität nenne, ist dampfkesseltriebhaft, ziemlich kopflos, fremddiszipliniert, uniform, genital- und koituszentriert, ideologisch gott- und naturgewollt, ewiglich nach dem Muster „ein Mann + eine Frau“. Selbstdiszipliniert und selbstoptimiert, kalkuliert und kopfgesteuert sind demgegenüber die neuen Sexualitäten, die Neosexualitäten. Kein Wunder, dass sie der Selbstbefriedigung sehr nahe sind. Zur Zeit ist die Selbstbefriedigung die erfolgreichste aller Sexualformen, vor allem bei Männern, aber auch bei Frauen, von den Jüngeren selbst in Beziehungen weitgehend akzeptiert. Das allgemeine Modell der neosexuellen Revolution kann auch deshalb als Selfsex oder Lean Sexuality bezeichnet werden, der es nicht mehr um Wollust, sondern um Wohllust, um Wohlfühl-Lust geht.

Die Entpathologisierung alter Perversionen ist für alle ehedem Verpönte und Verfolgte ein großes Geschenk. Sie können jetzt ihre individuelle Vorliebe ohne Angst leben. Die Neosexuellen und Neogeschlechtlichen, allen voran die Schwulen und die Lesben, sind heute bei uns eindrucksvoll politisch organisiert als LGBTIQ, das meint Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex und Queer bzw. Questioning. Sie leben heute jenseits von Medizin und Therapie und beweisen, dass die Sitten und Maße der Normalen nicht alles sind, weil sie überwunden werden können.

Erkennbar an Bedeutung verloren haben die traditionelle Ehe und die Vater-Mutter-Kind-Familie. In Deutschland sieht es gegenwärtig so aus: Jede dritte, heute geschlossene Ehe wird geschieden werden. Etwa zwei Drittel aller Scheidungen werden gegenwärtig von Frauen eingereicht. Immer mehr Männer und Frauen leben unverheiratet zusammen oder bleiben allein. Im Durchschnitt bekommt eine Frau ein bis zwei Kinder, statistisch: knapp eineinhalb. Jede dritte Frau wird kinderlos bleiben. Nach dem Übergang vom „Ganzen Haus“ vergangener Jahrhunderte, das viele Personen umfasste, zur Kleinfamilie à la Vater-Mutter-Kind bewegen wir uns seit einigen Jahrzehnten auf eine Kleinstfamilie zu. Sie besteht zum Beispiel aus einem Erwachsenen und einem Kind, den bekannten Alleinerziehenden, kann aber auch nur eine Person umfassen, die ihre eigene Familie ist.

Grundsätzlich geht es in der westlichen Markt- und Wissensgesellschaft vorrangig um das materielle und nicht um das spirituelle Befriedigen von Gier und Neugier. Unsere „Kulturbeutel“-Kultur konnte nicht wie asiatische Kulturen eine Ars erotica entfalten. Daher die Kälte, der Missbrauch, die Gewalt, der Schmutz, das sexuelle Elend. Und auch die neuesten, emergenten Neosexualitäten wie insbesondere die Internetsexualität zeigen paradoxe Auswirkungen. Einerseits wird der Missbrauch von Kindern durch den weltweiten Handel mit Pornografie befördert, andererseits findet ein einsamer, schüchterner und entlegen wohnender Mensch nur dank der Internet-Partnerportale die Liebe seines Lebens – was vor der neosexuellen Revolution nicht möglich war.

Doch es bleiben viele Fragen. Welchen Einfluss hat das Internet bereits heute auf unser Sexualleben? Gibt es eigentlich schon Cyber-Sex im engeren Sinne? Wird die Aufklärung in unseren Schulen endlich auch die sexuelle Vielfalt berücksichtigen? Oder werden die errungenen Freiheiten wieder eingeschränkt? Müssen Frauen wieder um ihre Selbstbestimmungsrechte hinsichtlich einer Schwangerschaft bangen? Werden lesbische und schwule und überhaupt queere Lebensformen wieder verachtet und von Staats wegen bekämpft werden?