Sprachentwicklung
Erstsprachkompetenz im Jugendalter

Muttersprachliche Kompetenz
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Die Sprachentwicklung in der Erstsprache ist zu Beginn des Jugendalters noch nicht abgeschlossen. Vor allem Wortschatz, Satzbau und Textkompetenz entwickeln sich in der Sekundarstufe erheblich.

Bis vor nicht allzu langer Zeit ging man noch davon aus, dass mit dem Ende der Kindheit auch die Sprachentwicklung in der Erstsprache abgeschlossen ist. Die Forschung der letzten Jahre zeigt jedoch deutlich, dass dies nicht so ist. Die Sprachentwicklung in der Erstsprache ist im Jugendalter subtiler und verläuft in weniger wahrnehmbaren Schritten. Und doch finden noch wichtige Entwicklungen statt.

Wortschatz

So kann man beispielsweise enorme Fortschritte im Wortschatzerwerb beobachten. Während Schülerinnen und Schüler der 1. Klasse einen Wortschatz von ungefähr 8.000 bis 14.000 Wörtern haben, beträgt er bei Jugendlichen in der 12. Klasse ungefähr 80.000 Wörter - eine enorme Entwicklung während der Schulzeit. [1] Dabei nimmt nicht nur die Anzahl der Wörter zu, sondern auch die Art der Wörter: Während Kinder vor allem konkrete Wörter lernen (z.B. Fahrrad, Tisch, Schule), erwerben Schülerinnen und Schüler im Laufe der Jahre mehr abstrakte Wörter (z.B. Missverständnis, Zuversicht, Demokratie) [2] vor allem durch die Lehrinhalte verschiedener Schulfächer in Form von Texten und Erläuterungen der Lehrkräfte. Außerdem erwerben Jugendliche mehr seltene Wörter (z.B. Gaube, Buchbinder). [3]

Satzbau

Außerdem machen Jugendliche im Laufe der Jahre bedeutende Fortschritte beim Satzbau (Syntax). Ihre Sätze werden mit zunehmendem Alter länger. Die durchschnittliche Äußerungslänge (d.h., die durchschnittliche Anzahl von Wörtern pro Satz oder Äußerung) beträgt in der 3. Klasse 7 Wörter und in der 12. Klasse 14 Wörter. [4] Ältere Schülerinnen und Schüler haben zudem einen deutlich komplexeren Satzbau als jüngere. So tauchen zum Beispiel mehr Nebensätze im Sprachgebrauch von Jugendlichen auf, [5] und sie nutzen mit steigendem Alter längere und komplexere Nominalphrasen (z.B. der Mann vs. der alte Mann mit der Glatze). [6] Außerdem entwickelt sich der Gebrauch des Passivs (z.B. die Nachbarin füttert die Katze vs. die Katze wird von der Nachbarin gefüttert), [7] welches im Zusammenhang mit der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten steht, wodurch Jugendliche in der Lage sind, auch weniger subjektive Betrachtungsweisen einzunehmen.

Textkompetenz

Auch in Bezug auf Textverstehen und Textproduktion gibt es enorme Entwicklungen während der Jugendphase. Während Schülerinnen und Schüler in den ersten Schuljahren bereits in der Lage sind, gut strukturierte narrative Texte zu verstehen und zu produzieren (sowohl mündlich als auch schriftlich), [8] haben sie häufig Probleme, mit Sachtexten. Das erklärt sich dadurch, dass die kognitive Leistung bei, Verstehen und Produzieren von narrativen Texten geringer ist als bei Sachtexten [9] und dass Kinder zudem schon früh mit narrativen Texten konfrontiert werden (z.B. Gute-Nacht-Geschichte). [10] Studien mit Kindern und Jugendlichen zeigen, dass die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern im Umgang mit Sachtexten im Laufe der Schulzeit kontinuierlich anwachsen und sich auch noch in der Oberstufe weiterentwickeln. [11]

Folgen für den Fremdsprachenunterricht

Aus diesen Beispielen zum Erstspracherwerb wird deutlich, dass die Sprachkompetenz bei Jugendlichen auch in der Erstsprache noch stark in der Entwicklung ist. Das wird im Fremdsprachenunterricht oft vergessen. Da die Lernenden Erfahrungen und Fähigkeiten aus ihrer Muttersprache mitbringen, auf die das Fremdsprachenlernen aufbaut, können im Deutschunterricht keine Satzkonstruktionen, sprachlichen Handlungen, etc. von den Jugendlichen erwartet werden, die sie selbst in der eigenen Muttersprache noch nicht beherrschen.

Wenn möglich, sollten Deutschlehrerinnen und -lehrer mit den Lehrkräften anderer Fächer (z.B. der Muttersprache, anderer Fremdsprachen aber auch Sachfächer) zusammenarbeiten, um verschiedene Techniken, wie das Planen und Formulieren eines Textes oder das Strukturieren eines Vortrags, fächerübergreifend zu üben und aufeinander abzustimmen und aufzubauen.
 

[1] Owens, R.E. (1996). Language development (4. Auflage) Boston: Allyn & Bacon.

[2] Ravid, D. (2006). Semantic-pragmatic development in textual contexts during the schoool years: The Noun Scale. Journal of Child Language, 33, 791-821.

[3] Ravid, D. (2004). Derivational morphology revisited: Later lexical development in Hebrew. In R.A. Berman (ed.), Language development across childhood and adolescence. Amsterdam: John Benjamins. 

Ravid, D. & Berman, R.A. (2009). Developing linguistic register across text types: The case of Modern hebrew. Pragmatics and Cognition, 17, 108-145.

[4] Scott, C.M. (1988). Spoken and written syntax. In M. Nippold (Hrsg.), Later language development: Ages nine through nineteen. Boston: College Hill Press.

[5] Berman, R.A. & Nir, B. (2009). Cognitive and linguistic factors in evaluating expository text quality: Global versus local? In V. Evans & S. Pourcel (Hrsg.), New directions in cognitive linguistics. Amsterdam: John Benjamins. 

Berman, R.A. & Nir, B. (2009). The language of expository texts: Developmental perspectives. In M. Nippold & C. Scott (Hrsg.), Expository discourse in children, adolescents, and adults: Development and disorders. New York: Taylor & Francis.

Gayraud, F.; Jisa, H. & Viguié, A. (2001). Utilisation des uotils cohésifs comme indice de sensibilité de register: Une étude développementale. Association Internationale des Loteries d’Etat, 14, 3-24.

[6] Jisa, H. & Tolchinsky, L. (2009). Developing a depersonalized stance through linguistic means in typologically different languages: Written expository discourse. Written Language and Literacy, 12, 1-25.
Ravid, D. & Berman, R.A. (2010). Developing noun phrase complexity at school age: A text-embedded cross-linguistic analysis. First Language, 30, 3-26.

[7] Jisa, H. (2004). Developing alternatives for expressing discourse stance. In D. Ravid & H.B.Z. Shyldkrot (eds.), Perspectives on language and language development: Essays in honor of Ruth Berman. Dordrecht: Kluwer.

Reilly, J.S., Zamora, A. & McGivern, R.F. (2005). Acquiring perspective in English: The development of stance. Journal of Pragmatics, 37, 185-208.

Tolchinsky, L. & Rosado, E. (2005). The effect of literacy, text type, and modality on the use of grammatical means for agency alternation in Spanish. Journal of Pragmatics, 37, 209-238.

[8] Berman, R. A. & Katzenberger, I. (2004): Form and function in introducing narrative and expository texts: A developmental perspective. Discourse Processes, 38, 57-94.

Tolchinsky, L., Johansson, V. & Zamora, A. (2002). Text openings and closings: Textual autonomy and differentiation. Written Language and Literacy, 5, 219-254.

[9] Bruner, J. (1986). Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge: Harvard University Press.

[10] Berman, R.A. (2009). Beyond the sentence: Language development in narrative contexts. In E. Bavin (Hrsg.), Handbook of child language. Cambridge, Cambridge University Press.

[11] Berman, R.A. & Nir, B. (2009). The language of expository texts: Developmental perspectives. In M. Nippold & C. Scott (Hrsg.), Expository discourse in children, adolescents, and adults: Development and disorders. New York: Taylor & Francis.