„Emocracy“
Vor Populismus ist niemand gefeit

Premiere von „Emocracy“
Premiere von „Emocracy“ | Foto: Paula Reissig/Interrobang

Wie stark ist die Demokratie von Emotionen geprägt – und Bildungsbürger vom Populismus? Mehr als wir meinen, vermittelt die Performance „Emocracy“, eine Koproduktion zwischen den Sophiensälen und dem Goethe-Institut, die in Berlin Premiere gefeiert hat. Ein Highlight: Das Publikum bestimmt den Verlauf des Zwei-Personen-Stücks wesentlich mit.

Soviel Mitbestimmung ist selten: Wer sich langweilt, kann die sich abwechselnden zweieinhalbminütigen Monologe einfach unterbrechen. Man steht auf, hält sich die Ohren zu und dem Performer oder der Performerin werden zwei Sekunden der Redezeit abgezogen, die auf einer digitalen Uhr heruntergezählt werden.
 
Auf der Videoleinwand hinter den beiden Schauspielern, die den Abend mal monologisch, mal im Streitgespräch im Kantinenraum der Berliner Sophiensäle gestalten, wird das Geschehen im Publikum live übertragen. Auch ohne sich umzudrehen, sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer auf einen Blick, wofür sich die Sitznachbarn entscheiden: Mal bedeutet Aufstehen und Daumen hoch, dass die Performer länger sprechen dürfen; mal bedeutet es die Zustimmung zu Ton,- Licht und Nebeleffekten. Und im zweiten Teil des Stücks entscheidet das Zuschauervotum sogar über den Fortgang der Geschichte: ob diese sich etwa mehr in Richtung Publikumsbeschimpfung entwickeln soll oder ob darin mehr oder weniger Narzissmus oder Feminismus gewünscht ist.

Scheinbar politisch korrekt

Die sarkastisch zugespitzten und vom Performer-Duo (Bettina Grahs, Lajos Talamonti) auf den Punkt deklamierten Anekdoten aus dem Bildungsbürger-Milieu beginnen mit trivialen Begebenheiten und legen nach und nach die moralischen Fallstricke eines sich politisch korrekt wähnenden Mainstreams offen: Im einen Fall erzählt die Performerin davon, wie sie nachts voller Angst durch eine „Schleuse“ dunkelhäutiger Dealer den Görlitzer Park in Berlin durchquert, aber die üblichen Normalisierungsstrategien hinterfragt. „Es gibt keinen Kontakt in diesen Schleusen, obwohl ich vieles gerne erfahren würde: Warum seid Ihr nur Männer? Esst Ihr auch, oder raucht Ihr nur? Und was verdient man eigentlich in Eurem Job?“
 
Im anderen Fall erzählt der männliche Performer vom Sohn eines Freundes, der seine Spielzeugpistole auf dem Spielplatz verleiht und nicht zurückbekommt. Daraufhin spricht sein Vater den anderen, türkischen Jungen darauf an, kann aber in seiner vor Verständnis triefenden Tonlage nichts ausrichten. Da erscheint dessen Mutter auf der Bildfläche und macht den Vater mundtot: „Wie eine Königin kam die auf ihn zu und sagte voll natürlicher Autorität: Wie reden Sie denn mit meinem Sohn? Und er dachte nur: Sie hat ja Recht!“
 
Drastischer verläuft eine Anekdote, die die Performerin zum Thema Immobilien zum Besten gibt: Erst ist die Rede von immer stärker steigenden Preisen im Berliner Wohnungsmarkt, dann kommt auf einmal die neue Käuferschicht „der Israelis“ ins Spiel. Und nachdem die Zuschauerinnen und Zuschauer die elektronisch aufleuchtende Frage „Mehr oder weniger Zumutung?“ bejahten, spitzte sich die Schilderung so zu, dass plötzlich Sätze im Raum standen, wie: „Es ist ja schon so, dass die uns verdrängen – und überhaupt, ich verstehe die ganze Religion nicht, das ist richtiggehend eklig. Hat da nicht auch ein Mann mehrere Frauen?“ Das laute Gelächter im Zuschauerraum galt nicht nur der absurden Conclusio und dem jäh aufblitzenden Rassismus, sondern auch der Rasanz, in der ein harmloses Geplänkel in nationalistische Rhetorik umschlägt.

Alltagsgespräche mit politischer Sprengkraft

„Die bürgerliche Mittelschicht ist für populistische Generalisierungen genauso anfällig wie andere Teile der Bevölkerung“, resümierte Till Müller-Klug am Premierenabend. Er hat das Konzept von „Emocracy“ zusammen mit Nina Tecklenburg und Lajos Talamonti entwickelt. Das Trio bildet die Berliner „Interrobang Performance“-Gruppe, auf die das Goethe-Institut seit deren Produktion mit dem Titel „Preenacting Europe“ (2013) in Prag aufmerksam wurde, hat den Anspruch, neue partizipative Bühnenformate zu entwickeln, um gesellschaftspolitische Phänomene zu ergründen.

Unter dem Titel „Neuformulierung eines Gesellschaftsvertrages" erarbeitete das Theater-Kollektiv seine jüngste Performance in Kooperation mit Tekst (Kiew) und Theater.dok (Moskau), die je eigene Produktionen zum Thema beisteuern. Die Ausgangsfrage lautete: Wie haben sich politische Entscheidungsprozesse durch den wachsenden Populismus in einer Gesellschaft verändert, in der vor allem diejenigen belohnt werden, die die größte Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Müller-Klug: „Mit Emocracy wollten wir in der Mikrowelt des Theaters ausprobieren, was geschieht, wenn wir an die Gefühle der Zuschauer appellieren und diese die Chance haben, das Bühnengeschehen zu beeinflussen.“

Was man als liberal denkender Mensch als Abstraktum vermutlich von sich weisen würde – etwa das Postulat einer größeren Strenge in der Erziehung – könne durch starke Emotionalisierungen durchaus plötzlich Zustimmung finden, sagt er. „Die Frage, welche neue Art von Vertrag unsere Gesellschaft braucht, können auch wir nur anstoßen“, konzediert Müller-Klug. „Eine wichtige Erfahrung für uns war, dass sich auch in Alltagsgeschichten politische Sprengkraft verbirgt. Und dass man Populismus nicht als etwas abtun kann, dem nur die Anderen folgen.“