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Comic
Superheldin mit Migrationshintergrund

Kamala Khan, eine amerikanische Muslima ist Ms. Marvel.
Kamala Khan, eine amerikanische Muslima ist Ms. Marvel. | Illustration (Ausschnitt): © picture alliance/dpa/Adrian Alphona/Marvel

So wie alle Werke der Populärkultur sind auch Comics stets ein Abbild jener Generation, die sie machen und konsumieren. Generationsspezifische Auffassungen zur geschlechtlichen, ethnischen und soziokulturellen Identität reichen stets weit über die Grenzen der Bildergeschichten hinaus. So wie sich die reale Welt verändert, so wandelt sich also auch die Welt der Comics. Gelegentlich drehen sie sich ganz explizit um gesellschaftliche Zusammenhänge und lassen dabei die reale menschliche Dimension nicht außer Acht. Vielmehr interpretieren sie diese.

Von Maryanne Rhett

Die 2014 wiederbelebte Reihe „Ms. Marvel“ ist ein treffliches Beispiel dafür, wie generationsbedingte Trends den Aufbau eines Comics prägen und gleichzeitig den Einfluss vorangegangener Generationen auf die heutige Welt reflektieren. Im Kern geht es auch in den „Ms. Marvel“-Geschichten immer um Gut gegen Böse. Wenn sie keine Maske trägt, steht die Titelfigur Kamala Khan zugleich sinnbildlich für eine zunehmend globalisierte Welt und ganz bewusst als Modell für generationenübergreifende Wandlungen und Bewegungen.

Kamala Khan ist eine junge Frau mit pakistanischen Wurzeln, die in Jersey City im US-Bundesstaat New Jersey lebt. Wie bei fast allen Superheld*innen, so ist auch Khans Vorgeschichte für das Verständnis ihres Handelns bedeutsam. Nur beschränkt sich ihre Biografie nicht auf ihre eigene Kindheit. Sie reicht bis zu den Urgroßeltern zurück, die auf der anderen Seite des Erdballs lebten.

Die Autor*innen von „Ms. Marvel“ lassen diese Geschichte Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts beginnen. Auf dem vom britischen Rückzug und von tiefgründigen ethnisch-nationalistischen Konflikten erschütterten indischen Subkontinent entstehen erste Frauenrechtsbewegungen. Vor diesem historischen Hintergrund agieren die Heldin und ihre Freund*innen im 21. Jahrhundert. Die weit in der Vergangenheit liegenden Entwicklungen prägen Khans Kämpfe und ihre Selbstfindung in der Gegenwart.

In der 2016 entstandenen Serie „Civil War II“ wird über vier Generationen hinweg die Geschichte der Frauen in Kamala Khans Familie erzählt – von Indien über Pakistan in die USA. Eingebettet in dieses Narrativ finden sich immer wieder Verweise auf den Islam – so wie die Frauen und ihre Familien ihn verstehen – und auf die Macht von Frauen, die ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen.

Die Reihe beginnt 1947 in Bombay. Die damals schwangere Ururgroßmutter Kamala Khans – Aisha – will von Indien aus nach Pakistan fliehen. Khans Ururgroßvater stellt sich dagegen: „Wir sind doch Inder“, sagt er – worauf ihr Großvater väterlicherseits antwortet: „Nicht mehr.“

Als die drei zu ihrer Reise aufbrechen, erfahren die Leser*innen, dass Aisha in ihren „Hochzeitsarmreifen“ das Startkapital für ihr neues Leben ver steckt; dafür hatte sie ihren ganzen Schmuck zu Geld gemacht. In dieser Schilderung nationaler Entwurzelung erfahren wir, dass „auch inmitten eines Bürgerkriegs ein neues Leben beginnen“ k ann. Dieser kurze Blick auf Khans Hintergrundgeschichte lehrt uns, wie die Generationen, die vor uns kamen, das mitgestaltet haben, was wir heute sind.

Um 1999 setzt die Geschichte mit einem Gespräch zwischen Khans Großmutter und ihrer Mutter – Muneeba – über den bevorstehenden Umzug nach New Jersey wieder ein. Muneeba will Pakistan nicht verlassen, sie will nicht, dass ihre Kinder sich nirgends zu Hause fühlen. Khans Großmutter schenkt ihr die Hochzeitsreifen und sagt: „Gib sie deiner eigenen Tochter, wenn sie alt genug ist. Sie wird zwar auf einem anderen Kontinent geboren, aber ihre Geschichte wird unsere Geschichte sein.“

Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, so steht die Geschichte von Khans Herkunft mütterlicherseits in engem Zusammenhang mit bedeutenden globalen Ereignissen, die sowohl die islamische als auch die nichtislamische Welt prägten. Die Teilung Indiens und die Anschläge vom 11. September 2001 kurz nach der Auswanderung von Muneeba und Yusuf in die USA verknüpfen die Familiengeschichte Khans mit globalen historischen Wendepunkten.

Die indische Teilung ist auch ein zentrales Thema in Salman Rushdies Roman „Mitternachtskinder“. Seine „Satanischen Verse“ zogen seinerzeit den Zorn vieler Muslim*innen auf sich und führten zu Ayatollah Khomeinis berüchtigter Fatwa. Außerhalb der islamischen Welt sind vielen die Nuancierungen und die Vielfalt des Islam nicht bewusst; die Teilung Indiens, die islamische Revolution im Iran oder die Fatwa bestimmen und überschatten die westlichen Eindrücke von dieser Kultur. Für die nach 1979 Geborenen waren die Ereignisse vom 11. September 2001 in ähnlicher Weise prägend.

Die Geschichte von „Ms. Marvel“ zeig t, wie sehr eine Generation von den vorangegangenen geprägt ist. Über die eigentliche Bildergeschichte hinaus sind Kamala Khans Leben, Herkunft und Erfahrungen auch ein Spiegelbild der heu tigen Generation. Einwandererkinder der ersten Generation finden in Khans Geschichte ihre eigenen Erlebnisse wieder. Muslim*innen – in der Populärkultur viel zu oft verunglimpft – finden hier Figuren, die sich treu bleiben und zu ihren vielfältigen Erfahrungen stehen.

Frauen, die in der Superhelden-Tradition zwar nicht ganz fehlen, aber doch häufig übersehen werden, entdecken in „Ms. Marvel“ Inspiration für ihren eigenen Kampf um Selbstbestimmung. Comics wie diese bieten einen komplexen Blick auf die Geschichte und spiegeln nicht nur das Leben der heutigen Generation wider, sondern zeigen, wie sehr die Menschen von heute von denen der Vergangenheit geprägt sind.

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