Dokumentarfilm-Workshop
“Wer kann mir versichern, dass niemand hier mein Verwandter ist?”

Ein Bericht von Viola Scheuerer und Roberto Manhães Reis
Ein Schwarz-Weiß-Foto mit Menschen dunkler Hautfarbe vor einem Farmhaus inmitten karger Hügel: Zwei Männer halten Arbeitsinstrumente in der Hand. Am Boden trocknen Kaffeekirschen. Kinder sitzen vorne im Bild, neben ihnen steht eine Frau mit einem Baby im Tuch. Eine zweite Frau beaufsichtigt einen weissen Jungen auf einem Dreirad. Ihre Köpfe sind leicht gebeugt. Nur der weisse Junge blickt direkt in die Kamera. Die Bildlegende zu diesem Foto lautet: Fazenda de Quititi, Jacarepaguá, Rio de Janeiro, George Leuzinger, c.1865.
Die Aufnahme entstand, als sich die brasilianische Wirtschaft und Gesellschaft auf die Versklavung afrikanischer Menschen stützte. Es ist ein Foto, das heute Schmerz und Wut auslöst. Ein visuelles Dokument, das uns unmittelbar mit der Existenz von Millionen von versklavten Afrikaner*innen und mit unserem Unwissen darüber konfrontiert. Dieses Foto entstand im 19.Jh, um Besitz zu zeigen und Besitzverhältnisse zu untermauern. Es war nicht für uns gedacht, die diese Geschichte im 21.Jh anders verstehen. Auch nicht für Samaritano aus Luanda, der sich die Frage im Titel unseres Textes stellt.
Mit diesem und weiteren historischen Fotos im Gepäck reisten wir nach Luanda, um den Workshop “Revisitar o passado, entender o presente” zu leiten. Während einer Woche haben wir mit angolanischen bildenden Künstler*innen, Historiker*innen, Ethnolog*innen, Dokumentarist*innen und Student*innen mittels theoretischer Texte, anhand filmischer Beispiele und in praktischen Übungen überlegt, wie wir mit diesen Fotografien im Dokumentarfilm arbeiten könnten.
Die Teilnehmer*innen des Workshops diskutieren über eine Fotografie. | © VIROfilm
Wie können historische (koloniale) Fotografien zum Ausgangspunkt unserer Erzählungen werden? Könnten sie eine Verbindung zu abgerissenen Traditionen herstellen? Können sie Erinnerungen reanimieren, unsere heutigen Wahrnehmungen hinterfragen? Können wir koloniale Fotografien dekolonialisieren? Wir verabschiedeten uns vom Fotografen und konzentrierten uns auf die Menschen auf dem Bild. Wir versuchten, uns ihre Situation zu vergegenwärtigen und uns vorzustellen, was vor und was nach dem “Klick” passierte. Was ist implizit im Bild vorhanden?
Mit diesem Ansatz begaben wir uns ins Fotoarchiv des Museu de Antropologia in Luanda. Jede*r wählte sich unter den Dias, Negativen und Abzügen ein Foto aus, um in den darauf folgenden Tagen zu recherchieren, zu formulieren, aufzunehmen, zu demontieren und zu schneiden. Die Fotos waren der Ausgangspunkt für 12 Kurzfilme, die uns alle überraschten.

Als Einblick zeigen wir hier den Film von Sacerdote: Rechts oben ein ausgestreckter Arm, unten tanzende Füße. Eine Stimme rätselt: "Ist das ein Fest? Weiße Linien ziehen sich über die dunkle Leinwand. "Ja, es ist ein Fest!" Die Linien unterteilen das Bild in unterschiedliche Sphären. So wird das Bild für das Publikum, wie in einem Puzzle, Schritt für Schritt klarer: Zwei Frauen in Uniform treten vor einem aufmerksamen Publikum auf, einem Publikum, "das die Vergangenheit vergessen hat, obwohl es mit dabei war." Schließlich wird auf die Rückseite des Fotos überblendet. Dort steht: Theaterstück „Geschichte von Angola“, Szene: Berliner Afrika-Konferenz (1884).