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Sandrine Gasabarage Niyonkuru

Porträt von Sandrine Gasabarage Niyonkuru
© Chris Schwagga für Goethe-Institut Kigali

Sandrine Gasabarage Niyonkuru, ein junges Postmemory-Mädchen​ [1], zweitältestes Kind in einer Familie mit vier Töchtern und Erstgeborene nach dem Genozid.

Wenn ich das Wort „Familie“ höre, denke ich zunächst einmal an etwas Wesentliches. Es ist sehr wichtig, eine Familie zu haben. Ohne geht es nicht. Emotionale Dimensionen, die das Wort Familie wachruft, beschreibt Sandrine als Paar: Liebe und Sorge. Die Familie ist ein Objekt der Liebe, da sie Liebe gibt und Liebe empfängt. Doch gleichzeitig sorgt man sich um seine Familie. „Ich wuchs in einer Familie mit Überlebenden des Völkermords auf. Doch sowohl meine Mutter als auch mein Vater sind fast die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Ich weiß nicht, wie es ist, Großeltern, Tanten oder Onkel zu haben, außer natürlich den Familien, die wir uns selbst ausgesucht haben. Diese einzigartige Vergangenheit macht mir immer noch Angst – eine Angst, die uns ständig begleitet.“
 
Wir bleiben viel unter uns in der Familie. Das liegt daran, dass meine Eltern in eine Stadt gezogen sind, aus der weder sie noch ihre Eltern stammen. Es ist eine Stadt, in der sie vor dem Völkermord nie gelebt haben. Wir leben unter uns, deswegen sprechen wir viel über positive wie auch negative Dinge.
Wir ziehen uns oft ins Mädchenzimmer mit unserer Mutter zurück, um zu lachen, zu plaudern, zu träumen und verschiedene Dinge in unserem Leben zu besprechen.

Auch im Wohnzimmer und im Garten finden viele Familiengespräche statt, oft nach den Mahlzeiten. Zwar lachen wir viel an diesen Orten, doch werden hier auch ernste Angelegenheiten geklärt, wie z. B. Erfolge oder Misserfolge in der Schule. Hier besprechen wir unsere Zeugnisse und müssen uns Predigten vor Schulbeginn anhören.

Meine Mutter kümmert sich um alle Schulbelange, wie Gebühren, die Wahl der Schule usw. Papa ist derjenige, der bei Schwierigkeiten in der Schule schimpft. Solche Diskussionen können Stunden dauern. Wenn ein gesellschaftliches Ereignis zu organisieren ist, wie eine Hochzeit oder eine große Feier, übernimmt Mama die Leitung und das Kommando, sammelt Ideen und verteilt Rollen. Aber Papa ist derjenige, mit dem wir über unsere Zukunft sprechen. Er gibt den Ton an, was unsere guten Vorsätze für das neue Jahr angehen, und das kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Egal worum es geht, wir sind eine Familie, die von offener Kommunikation getragen wird. Wir sprechen viel miteinander zuhause, fast die ganze Zeit.

Unsere Familie ist christlich. Wir beten, aber das verursacht keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, denn Beten ist Teil unseres Familienlebens. Wir werden aber nicht gezwungen, in die Kirche zu gehen. Niemand möchte Probleme verursachen. Unsere Eltern brauchen Religion. Ein bisschen, um ihrer Beziehung zum Leben Struktur zu geben, aber noch viel mehr, glaube ich, um etwas in ihrem Leben aufrechtzuerhalten, das durch den Völkermord zerstört wurde. So werte ich unsere Beziehung zu Religion zuhause.

Wenn es an der Zeit ist, meine eigene Familie zu gründen, werde ich alles Erdenkliche tun, um sicherzustellen, dass es der Familie, in die ich hineingeboren wurde, gut geht – und auch der, die wir mit Freunden gegründet haben. Ich liebe meine Familie sehr und kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Der Mann, dem ich mein Herz schenke, darf meine Familie kennen und lieben lernen, sodass auch sie ihn akzeptieren und lieben können. Ich wünsche mir sehr, dass meine Kinder erfahren dürfen, was mir und meinen Schwestern verwehrt wurde: die Liebe von Großeltern. Wir haben keine Großeltern und müssen mit dieser Leere leben. Unsere Eltern erzählen uns oft von ihren. Sie erzählen uns über ihre Kindheit und ich möchte, dass meine Kinder ihre Kindheit mit Großeltern, Tanten, Cousins und Cousinen usw. verbringen. All die Dinge, die wir vermissen.

Wenn ich eine Familie gründe, werde ich alle Chancen ergreifen, die das Leben nach dem Völkermord für uns bereithält. Meine Eltern haben uns wirklich viel Liebe geschenkt, aber auch Freunde von ihnen, die auf gewisse Weise unsere Tanten und Onkel geworden sind und ihre Kinder unsere Cousins und Cousinen. Ich möchte, dass sie alle Teil der Familie werden, die ich gründe. Zuletzt hoffe ich noch, dass Imana (Gott im ruandischen Glaubenskonzept) auf meiner Seite sein wird.

[1] Marianne Hirsch bezeichnet hiermit Kinder, die nach gewaltigen Katastrophen geboren wurden, um herauszustellen, dass solche Ereignisse die erste Folgegeneration beeinflussen.

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