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Jean Paul Kayumba Cyitatire

Porträt von Jean Paul Cyitatire Kayumba
© Chris Schwagga für Goethe-Institut Kigali

Jean Paul Kayumba Cyitatire, ein junger Mann, der davon träumt, Philosoph und Ethnologe für seine Gesellschaft zu werden. Was denkt er über Familie?

Wenn ich das Wort Familie höre, denke ich an den Anfangspunkt allen Lebens, sowohl einzelner Personen als auch der gesamten sozialen Gruppe. Ich glaube, es geht sogar darüber hinaus und es hat etwas Philosophisches.

Emotional löst Famile in mir Freude aus (darüber, einen Ursprung zu haben) sowie das Verlangen oder den Wunsch nach der Vorstellung einer Familie, die ich kenne. Gleichzeitig aber auch Anspannung und Schmerz, denn dieses Konzept ruft Erinnerungen wach und betont, was fehlt.

Ich wuchs in einer Familie mit einem verstorbenen Vater auf – eine Situation, die für viele von uns seit 1994 nichts Ungewöhnliches ist. Unsere Mutter behütete uns sehr, ein bisschen wie eine Glucke, die ihre Küken vor einer unmittelbaren Gefahr schützt. Nach dem Tod meines Vaters kam ich in die Obhut einer Tante, damit ich in der Hauptstadt eine gute Schulbildung erhielt. Ich kam nur für die Ferien nach Hause.

Bis ich acht Jahre alt war, war mir ein Vater gegönnt. Er arbeitete zwar in Kigali und kam nur am Wochenende nach Hause, aber ich habe ihn als einen sehr großen, attraktiven Mann in Erinnerung – als einen Vater, der unser Haus mit Freude füllte und uns bei jedem Besuch Dinge aus der Hauptstadt mitbrachte. Für mich verkörperte dieser Mann Macht und zu erfahren, dass er getötet wurde, machte für mich niemals Sinn. Bis heute habe ich damit Probleme, auch wenn ich mit dieser Realität mittlerweile seit über 26 Jahren lebe.
 
Mutter nahm uns stark unter ihre Fittiche. Sie mochte es nicht, wenn wir ausgingen und mit anderen Kindern Zeit verbrachten. Obwohl wir in Rwamagana wohnten, nur die Straße runter, mussten wir in der Nähe der Familie bleiben, sofern wir nicht in die Schule oder Kirche gingen. Die Kirche nahm im Leben meiner verwitweten Mutter viel Platz ein. Sie verbrachte viel Zeit mit Beten und dem Kirchenleben, insbesondere durch den Chor. Ich denke, so wollte sie zumindest teilweise ein Zugehörigkeitsgefühl erleben.

Ich war überzeugter Katholik. Ich besuchte sogar das Knabenseminar, aber meine Mutter war Protestantin. Doch das führte nie zum Streit zwischen uns. Religion ist nur etwas, das uns im Leben begleitet, aber nichts, das einen Keil zwischen uns treiben würde. Meine beiden jüngeren Schwestern schlossen sich unserer Mutter in der Kirche an, doch als sie heiraten wollten, bestanden sie auf eine katholische Trauung. Das bereitete meiner Mutter niemals Kopfschmerzen. Für uns ist Gott wichtig und nicht die Wege, die wir einschlagen, um ihm näher zu kommen.

Wenn große Entscheidungen in der Familie anstehen, auch wenn es von diesen nicht viele gibt, kommen wir alle zusammen – meine Mutter, meine beiden jüngeren Schwestern, ich und mein Stiefbruder, der uns sehr nahe steht sowie oft auch der Bruder meiner Mutter, der in unserer Familie seit dem Tod meines Vaters einen wichtigen Platz einnimmt.

Als wir Vaters Leiche ausfindig machen und an dem Ort exhumieren mussten, wohin sie verbannt worden war, um sie wieder zu begraben, musste die Familie sich neu gruppieren und es war diese Kernfamilie, die herausstach. Es war die gleiche Kernfamilie, die sich auch um die Hochzeiten meiner Schwestern gekümmert hatte, was wichtige Ereignisse in unserer vaterlosen Familie waren.

Mutter ließ ihre Augen niemals von uns und um uns daran zu erinnern, dass wir als achtbare Kinder aufwachsen sollten, sagte sie stets: „Um nichts in der Welt würde ich wollen, dass ihr als Kinder einer einsamen Frau bezeichnet werdet“ [1]. Niemals zeigte sie uns oder ließ uns spüren, was es bedeutete, uns alleine aufzuziehen. Sie war jung, als sie zur Witwe wurde und ließ nie wieder jemanden in ihr Leben. Sie hätte unzählige Gründe gehabt, sich wieder ein neues Leben als Frau aufbauen zu wollen, doch stattdessen widmete sie sich ganz ihrem Leben als Mutter.

Eine Familie zu gründen, hat für mich noch keine Priorität. Aber ich kenne Menschen und Familien, die mich inspirieren und mir, wenn die Zeit reif ist, als Vorbild dienen werden. Die Liebe und Aufmerksamkeit, die eine enge Familie ihren Kindern schenkt, den Menschen, die dazugehören, die Möglichkeit zu diskutieren und Kinder in einer offenen Atmosphäre zur Unabhängigkeit zu erziehen, ich denke, dass ist die Art Familie, die ich gerne gründen würde. Und selbstverständlich werde ich der Frau, die ich liebe und heiraten werde, das Wertvollste in meinem Leben zu Füßen legen: meine Familie. Sie wird Teil meiner Familie werden – meiner eigenen und der, die ich durch Freundschaft gewonnen habe – sodass unsere Kinder umgeben von der Liebe all dieser Personen aufwachsen können.

Ich werde meinen Kindern die Welt zu Füßen legen. Ich werde ihnen Werte ans Herz legen, ihre Ambitionen und Wünsche schüren. Doch werde ich sie ihren eigenen Weg wählen lassen. Ich möchte sie nur anleiten und ihnen mein Vertrauen schenken.

[1] In Kinyarwanda bezeichnet „abana b'umugore“ Kinder, denen elterliche Autoriät vorenthalten war und die ohne Disziplin aufgewachsen sind. Das gleicht einem gesellschaftlichen Urteil, gegen das allein die Frau kämpft. Es ist eine Frage der Ehre für sie, in Erinnerung an ihren verstorbenen Ehemann.

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