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Charlotte Charité

Porträt von Charlotte Charité
© Chris Schwagga für Goethe-Institut Kigali

Charlotte Charité, eine Mutter, Witwe und umsichtige Frau, die sich entschlossen für Autonomie einsetzt, insbesondere von Frauen.

Wenn wir mit Charité über Familie sprechen, lächelt sie zwar, aber sagt mit ernster Stimme: „Es ist ein zu wichtiges Konzept, um nur kurz darauf einzugehen. Vor allem, weil hier in Ruanda ein Gespräch über Familie für viele immer noch mit tiefem Schmerz verbunden ist“. Ich frage sie, ob sie sich Zeit lassen möchte, bevor sie ohne Unterbrechung weiterspricht.

Ich liebe Familie. Sie fasst mein Leben zusammen. Familie – das Geschenk, dass mir durch die gewaltsame Geschichte Ruandas genommen wurde. Ich habe eine gewisse Vorstellung davon und kann nur ahnen, was Familienglück bedeutet. Zunächst, weil ich in meiner Familie aufwuchs, die mir hier als Bezugspunkt dient. Es war zwar nur von kurzer Dauer, aber ich durfte auch das Glück einer eigenen Familie erfahren, die ich mit meinem verstorbenen Mann gegründet hatte.

Familie bedeutet in erster Linie Eltern und Kinder, gefolgt von den engsten Verwandten wie Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen – insbesondere, wenn man das Glück hat, zusammenzuleben. Die Familie ist ein Ort, wo Liebe genährt und gegeben wird. Die Liebe, die ein Kind in der Familie erfährt, schützt es, macht es stärker und schenkt Vertrauen ins Leben. Mein Vater hat das Verb „lieben“ mit den Namen meiner Brüder und Schwestern in allen Zeiten und in mehreren Sprachen konjugiert [1]. Liebe war die treibende Kraft meines Vaters. Deshalb bedeutet Familie für mich Liebe – die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die Liebe der Kinder untereinander und zu ihren Eltern.

Selbst bevor ich heiratete, lange Zeit bevor ich Wohlstand erreichte und Obdach hatte, wünschte ich mir einen Mann voller Liebe – nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie. Ich wünschte mir, dass er auch von meiner Familie geliebt werden würde und unserer aller Liebe würdig war. Ich konnte mir nicht vorstellen, einen Mann zu lieben, den meine Familie nicht mochte. Das sollte mir von Anfang an gegönnt sein. Mein verstorbener Mann mochte meine Familie auf Anhieb, lange bevor er in mir eine zukünftige Ehefrau zum Lieben sah. So lief das in meiner Familie ab. Wir empfingen oft Leute, die an unserem Haus vorbeikamen und kümmerten uns um ihr Wohl (Erfrischungen, Gespräche, Mahlzeiten und manchmal auch Lieder und Tänze, so war das bei uns). Meine Eltern mochten diese Besucher, die Imana zu uns nach Hause sandte. Vom ersten Tag unseres gemeinsamen Lebens an unternahm ich alles in meiner Macht stehende, um eine Atmosphäre zu schaffen, die meiner Vorstellung von einer Familie, in der Liebe herrschte, so nahe wie möglich zu kommen.

Religion ist in meinem Leben sehr wichtig. Ich hatte schon immer das Bedürfnis, Gott näher zu kommen, egal durch welche Kirche (katholisch oder neuere Glaubensrichtungen). Das hat in meiner Familie nie auch nur zu den geringsten Spannungen geführt. Wir glauben an den gleichen Imana, und sämtliche mit ihm verbundene Werte betonen die Bedeutung von Liebe.

Mein Ehemann wurde während des Völkermords umgebracht, als unser Kind ein Jahr alt war. Ich musste mich mit unserem Baby verstecken. Ein guter Mann namens Gisimba Damascus hieß uns in seinem Waisenhaus willkommen und ich überlebte mit meinem Baby.  Ich begann sofort, in dem Waisenhaus zu arbeiten. Und auch da versuchte ich vor allem, diesen nun elternlosen Kindern Liebe zu schenken. Wenn ich traurig war, dass mein Baby seinen Vater verloren hatte, ohne ihn jemals richtig kennengelernt zu haben, hielt ich mich an dem Gedanken fest, dass es zumindest eine Mutter hatte. Das hielt mich davon ab, zu sehr in Selbstmitleid zu versinken. Die Arbeit im Waisenhaus bedeutete mir viel, da ich wusste, dass diese Kinder niemals eine Familie haben würden. Und wer trug die Schuld daran? Erwachsene, so wie ich. Das Ausmaß unserer Verantwortung ist katastrophal.

Manchmal träume ich von der Familie, die mein Sohn bald gründen könnte. Er ist jetzt 27 Jahre alt und verkündet vielleicht bald die frohe Botschaft. Daher wünsche ich ihm das gleiche, dass ich auch immer mir am sehnlichsten gewünscht habe: „Eine Frau, die ihn liebt und seine Familie liebt. Eine Frau, die wir alle lieben werden und die eine von uns werden wird.“

Dieses Land wurde komplett zerstört. Die Abwesenheit von Familien, die durch uns allen bekannte Probleme ermordert oder zerstört wurden. Dieses Problem wird uns noch lange begleiten und ich frage mich, wie wir es jemals hinter uns lassen können. Keine Familie zu haben, bedeutet in gewisser Weise keinen Ursprung zu haben.

Vielen Dank für diese Umfrage und Ihr Interesse an uns bescheidenen Menschen. Wir können uns vielleicht nicht mit akademischem Wissen rühmen, aber wir haben unsere Erfahrungen gesammelt, die unser tiefstes Wesen ausmachen. Daher finde ich es sinnvoll, diese zu teilen.
 
[1] Zwar wurden Namen genannt, die diese Behauptung untermauern, aber haben wir aus Respekt vor den Personen, die nicht am Interview teilgenommen haben, davon abgesehen, diese hier anzuführen.

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