Neun Filme, von Mar del Plata ins Programmkino Sala Leopoldo Lugones Alltagspoesie - Die frühen Filme von Helke Misselwitz

Helke Misselwitz ©SibylleBergemann

Di, 30.11.2021 –
Do, 02.12.2021

Sala Leopoldo Lugones / Teatro San Martín

Die Retrospektive Alltagspoesie - Die frühen Filme von Helke Misselwitz setzt sich zusammen aus drei Lang- fünf Kurz- und einem mittellangen Film. Mit einer Ausnahme sind die Filme zum ersten Mal in Argentinien zu sehen. Nach der Präsentation beim 36. Internationalen Filmfestival Mar del Plata nun in Buenos Aires.

Die Vorführungen werden vom Theaterkomplex des Kultusministeriums von Buenos Aires und der Stiftung Cinemateca Argentina präsentiert in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, dem Internationalen Filmfestival Mar del Plata, der DEFA-Stiftung und der DEFA Film Library in der UMass Amherst.

Die Filme dieser Retrospektive wurden zwischen 1983 und 1992 in der Deutschen Demokratischen Republik gedreht, in einem Land also, in dem ein sozialistischer Arbeiter- und Bauernstaat aufgebaut werden sollte, der aber 1989 zusammenbrach und ein Jahr später mit der deutschen Wiedervereinigung aufgelöst wurde. Seit ihren Anfängen als Filmemacherin stellte Helke Misselwitz das Alltagsleben einfacher, junger, arbeitender Menschen, vor allem aber von Frauen, in den Mittelpunkt ihrer Produktionen. Im Auftrag der staatlichen Produktionsfirma DEFA drehte sie Dokumentarfilme, in denen sie einfühlsame und poetische Porträts gestaltete und mit großem Geschick die Einzigartigkeit der Protagonist*innen aufzeigte. Damit stieß sie nicht immer auf Wohlgefallen bei den Funktionären, da sie eine Realität zeigte, die nicht dem offiziellen Diskurs entsprach. Heute wissen wir, dass Helke Misselwitz mit ihrem scharfen Blick nicht nur Werke von großem künstlerischen Wert sondern auch Zeugnisse mit hohem Geschichtswert geschaffen hat. Die kürzlich restaurierten frühen Filme von Misselwitz in Argentinien präsentieren zu können, ist eine Ehre und ein Vergnügen, umso mehr, als wir dabei den bezaubernden essayistischen Dokumentarfilm Tango-Traum (1985) entdecken, in dem sie ihre Sehnsucht nach damals unerreichbaren Orten in eine sinnliche und zugleich intelligente Liebeserklärung an den Tango und das Lebensgefühl des Río de la Plata umgesetzt hat. Herzlich willkommen bei uns, Helke Misselwitz!
Inge Stache

ZEITPLAN DER KINOVORFÜHRUNGEN

DIENSTAG 30.11.

35 fotos (7´) + Winter Adé (116)
15 Uhr / 21 Uhr (123’)

Marx-Familie (6’) + Sperrmüll (78’)
18 Uhr (84’)

MITTWOCH 1.12.

Aktfotografie – z.B. Gundula Schulze (12’) + Herzsprung (Spielfilm, 87’)
15 Uhr / 21 Uhr (99’)

Tango (6’) + TangoTraum (18’) + Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann
18 Uhr (76’)

DONNERSTAG 2.12.

Marx-Familie (6’) + Sperrmüll (78’).
15 Uhr (84’)

Tango (6’) + TangoTraum (18’) + Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (52’)
18 Uhr (76’)
 

DIE FILME

HERZSPRUNG
Helke Misselwitz, Deutschland, 1992, Spielfilm,  87 Min.
K: Thomas Plenert. S: Gudrun Plenert. B: Claudia Geisler, Günter Lamprecht, Eva-Maria Hagen, Nino Sandow, Tatjana Besson. *

Herzsprung Ⓒ DEFA Stiftung / Helga Paris Der kleine Ort Herzsprung irgendwo im Norden Ostdeutschlands, kurz nach der Wiedervereinigung. Johanna, eine junge Mutter, die verwitwet ist und ihre Arbeit verliert, wird zum Opfer der allgemeinen wirtschaftlichen Auflösung. Sie verliebt sich in einen fremden, dunkelhäutigen Mann, der gerade in die Stadt gekommen ist und in einem Imbisstand an der Autobahn arbeitet. Die Bewohner von Herzsprung werden auf das Paar aufmerksam, einige lehnen die Beziehung ab, und Rassismus und Ressentiments führen schließlich zu einer dramatischen Eskalation der Ereignisse. Der Film, der 1992 in San Sebastian uraufgeführt und 1993 für die Berlinale ausgewählt wurde, war der letzte Film des DEFA Studios für Dokumentarfilme, bevor die Filmgesellschaft aufgelöst wurde.

SPERRMÜLL
Helke Misselwitz, 1990, 78 Min., Farbe, DDR
D: Helke Misselwitz, Gerd Kroske. K: Thomas Plenert. S: Gudrun Plenert. *

Sperrmüll Ⓒ DEFA-Stiftung/Heiko_Koinzer Der im Frühsommer 1989 in Ost-Berlin gedrehte Dokumentarfilm porträtiert eine vierköpfige Punkband, die sich „Sperrmüll“ nennt. Sie trommelt ihre Musik auf Gegenständen, die andere weggeworfen haben. Helke Misselwitz konzentriert sich vor allem auf Enrico, einem der jungen Ostberliner Musiker. Obwohl seine Mutter Erika bald heiratet und in den Westen zieht, beschließt Enrico in Ostberlin zu bleiben, um seine kulturelle Identität auch nach dem Fall der Mauer zu bewahren. Die jungen Musiker wollen Bürger ihres eigenen Staates bleiben und stehen der bevorstehenden Wiedervereinigung eher skeptisch gegenüber. Dieser Film, der ursprünglich als Aufruf zum gesellschaftlichen Wandel gedacht war, zeichnet die Wendezeit aus der Perspektive einer Gruppe junger Menschen in Ost-Berlin auf.

WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN
Helke Misselwitz, 1989, 52‘, s/w, DDR
D: Helke Misselwitz, Thomas Plenert. K: Thomas Plenert. S: Gudrun Plenert. T: Ronald Gohlke. B: Brigitte Unterdörfer. *

wer fuerchtet sich Ⓒ DEFA Stiftung / Heiko Koinzer Einblicke in eine kleine private Kohlehandlung, die Haushalte im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg beliefert. Die energische Firmeninhaberin führt das kleine Unternehmen mit Humor und Wissen, und ihre sieben männlichen Angestellten zollen ihr entsprechenden Respekt. Von außen sehen diese Männer wie hartgesottene Kerle aus, aber wenn sie ihr Leben beschreiben, kommt auch ihre Verletzlichkeit zum Ausdruck. Ihre Gespräche reichen vom Bau der Berliner Mauer und der Möglichkeit, in den Westen zu fliehen, über Kindesmissbrauch, Selbstmord und Gefängnis  bis hin zum Alkoholismus. Die Filmhistorikerin Elke Schieber lobte den Film als „erfrischend und neu. [...] Ein schönes und zuweilen extravagantes Dokument der Berliner Arbeiterschaft. [...] Eine filmische Korrektur dessen, was an ostdeutschen Dokumentarfilmen allgemein geschätzt wurde“.

WINTER ADÉ
Helke Misselwitz, 1988, 116 Min., s/w, DDR.
D: Helke Misselwitz, Gudrun Plenert. K: Thomas Plenert. S: Gudrun Plenert. M: Mario Peters. T: Ronald Gohlke, Heinz Kaiser, Eberhard Pfaff, Peter Pflughaupt. *

Winter Ade Ⓒ DEFA_Stiftung / Thomas_Plenert Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR. Helke Misselwitz reist von Zwickau aus mit dem Zug durch die DDR und begegnet Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft. In diesem dokumentarischen Meisterwerk äußern die Frauen in den Gesprächen ihre persönlichen und beruflichen Frustrationen, ihre Wünsche und Hoffnungen. Sie bilden so das Porträt einer sich wandelnden Gesellschaft ab. Die Kamera wird in dem Schwarzweißfilm (35mm), der sich vor dem Hintergrund der ostdeutschen Landschaft und Architektur abspielt, von Thomas Plenert, einem der besten deutschen Kameramänner, geführt. Winter Adé ist ein richtungsweisender Dokumentarfilm, der bei seiner Uraufführung 1988 auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in Leipzig entsprechendes Aufsehen erregte. Der Film untergrub das offizielle Bild der Frauen in der DDR und stellte die Behauptung in Frage, die DDR habe die Gleichstellung der Geschlechter erreicht. Gleichzeitig aber sprechen die Frauen im Gefühl einer neuen Unabhängigkeit auch viel offener über ihr Leben.

MARX-FAMILIE
Helke Misselwitz, 1983-88, 6 Min., Farbe, DDR
D: Helke Misselwitz. K: Jürgen Rodow. S: Yvonne Loquens. T: Peter Dienst. B: Bärbel Bolle, Dieter Montag.*
 
Marx Familie Ⓒ DEFA_Stiftung Aufgenommen mit einer alten Parvo L-Kamera mit Kurbel und radikalen Schnittstrategien ist dieser Kurzfilm ein experimentelles und alternatives Porträt der Familie von Karl Marx und den schlechten Lebensbedingungen während ihres achtjährigen Aufenthalts in London. Originalschriften und persönliche Texte des Philosophen und seiner Frau werden mit historischen Fotos kombiniert, die sich mit Bildern eines verlassenen Ost-Berliner Gebäudes überschneiden. Der Kurzfilm wurde 1983 zum Gedenken an Marx' 100. Todestag produziert, aber Regierungsbeamte fanden ihn nicht würdig genug. Es wurde erst fünf Jahre später veröffentlicht.

TANGO-TRAUM
Helke Misselwitz, 1985, 18 Min., Farbe, DDR
D: Helke Misselwitz. K: Gunther Becher, Lutz Körner. S: Gudrun Plenert. T: Henner Golz, Jochen Huschenbett. M: Brigitte Unterdörfer *

Tango Dream Ⓒ DEFA Stiftung/Gunther Becher/Lutz Koerner Ein melancholischer Traum über Tanz und Musik, unerfüllte Sehnsüchte und Fernweh auf der anderen Seite der Berliner Mauer. In ihrer Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg sitzt eine Frau (gespielt von Helke Misselwitz) an ihrer Schreibmaschine und hört Tango. Sie schreibt das Drehbuch für einen Film über Tango und Träume, über Buenos Aires und Montevideo, eine andere Welt, in der vor vielen Jahren der Tango geboren wurde. Der Film erforscht das Spannungsverhältnis zwischen menschlichen Sehnsüchten, Poesie und Politik, die im Tango verschmelzen, und einem Lebensbewusstsein, das nur innerhalb der Kultur, in der es entstanden ist, existieren und sich entwickeln kann.

TANGO
Helke Misselwitz, 1985, 6 Min., Farbe, DDR
D: Helke Misselwitz. K: Bernd Merten, Gunther Becher. S: Sieglinde Abraham. T: Peter Dienst. M: Astor Piazzolla, Alonso Minotto. B: Helke Misselwitz, Alejandro Quintana Contreras. *

Tango Ⓒ DEFA_Stiftung Eine kurze Geschichte der Entstehung und der künstlerischen Innovationen des Tangos in Argentinien und Europa im späten 19. Jahrhundert. Der Film bietet ein Mosaik aus Tangomelodien, Kunstwerken, Tanzszenen, historischem Filmmaterial, Fotos von Buenos Aires um die damalige Jahrhundertwende und Texten von Celedonio Flores und Enrique Santos Discépolo.

35 FOTOS
Helke Misselwitz, 1984-85, 7’ Min. Farbe, DDR
D: Helke Misselwitz. K: Bernd Merten, Jürgen Rudow.  S: Karin Schöning. T: Helke Misselwitz. M: Cathrin Pfeifer. *

35 Fotos Ⓒ DEFA Stiftung / Juergen Rudow Eine Frau, die 1949, dem Jahr der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, geboren wurde, erzählt ihr Leben anhand von 35 Bildern aus ihrem Familienalbum, die jeweils ein Jahr repräsentieren. Dieser Kurzfilm sollte zum 35. Jahrestag der DDR gezeigt werden, wurde aber von offizieller Seite abgelehnt, da er ein vermeintlich negatives Bild des Familienlebens in der DDR zeichnet, das von einer atypischen Frau, einer geschiedenen, alleinerziehenden Mutter, dargestellt wird. Ein Jahr später konnte der Film unter einem anderen Titel vorgeführt werden.

AKTFOTOGRAFIE - Z.B. GUNDULA SCHULZE
Helke Misselwitz, 1983, 12 Min., Farbe, DDR
D: Christiane Hein, Helke Misselwitz. K: Jürgen Rudow. M: Volker Friedemann Seumel. B: Gundula Schulze *

Aktfotografie Ⓒ DEFA Stiftung / Juergen Rudow Die ostdeutsche Fotografin Gundula Schulze erklärt anschaulich ihren kreativen Prozess und spricht über ihren Wunsch (und ihre Bedenken), die ganze Persönlichkeit der von ihr porträtierten Frauen einzufangen. Sie betrachtet ihre Aktfotos, die in gesellschaftlicher Umgebung entstanden sind, als das Gegenteil von gewöhnlichen, oberflächlich erotischen Aktfotos. Gegen Ende der 1970er Jahre wurden Schulzes innovative Fotos von offizieller Seite abgelehnt, weil sie die Einsamkeit, die Armut und die Ängste eines Teils der ostdeutschen Gesellschaft erfassten und zum Ausdruck brachten. Das in Farbe gefilmte Gespräch mit Schulze ist mit Schwarz-Weiß-Bildern von arbeitenden Kassiererinnen in einer Kaufhalle unterlegt.


*
R – Regie
D – Drehbuch
K – Kamera
S – Schnitt
T – Ton
M - Musik
B – Besetzung

HELKE MISSELWITZ

helke misselwitz ©Sandra Buschow_sanstories.com Helke Misselwitz gehört zu den wichtigsten Filmemachern der letzten DEFA-Generation. Sie wird am 18. Juli 1947 in Planitz, bei Zwickau geboren. Nach ihrer Schulausbildung lernt sie den Beruf einer Möbeltischlerin und lässt sich später als Physiotherapeutin ausbilden. Nachdem sie neun Jahre lang als Regieassistentin und Regisseurin beim Fernsehen der DDR beschäftigt war, wird sie vom Sender an die Hochschule für Film und Fernsehen nach Potsdam-Babelsberg delegiert und studiert dort von 1978 bis 1982 im Fachbereich Regie.

Zum Fernsehen kehrt Helke Misselwitz nach Ende ihres Studiums nicht zurück. Sie arbeitet als freie Autorin und Regisseurin, muss sich ihren Lebensunterhalt aber auch als Kellnerin und Abwäscherin verdienen. Im DEFA-Studio für Dokumentarfilme dreht die junge Regisseurin Kurzfilme.  Als Regisseur Heiner Carow sie als Meisterschülerin an der Akademie der Künste der DDR aufnahm, schuf sie den herausragenden Dokumentarfilm Winter Adé (1988). Der Film fand große internationale Resonanz und erregte heftige Diskussionen aufgrund seiner realistischen Schilderung der sozialen Situation von Frauen im Sozialismus. Der Erfolg der Regisseurin führt 1988 zu einer festen Anstellung im DEFA-Studio für Dokumentarfilme, wo sie wichtige Dokumentarfilme drehte. 1992 drehte Misselwitz ihren ersten Spielfilm Herzsprung, 1996 folgte Engelchen.

Von 1997 bis 2014 war Helke Misselwitz Professorin für Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg (heute: Filmuniversität Babelsberg). Nach ihrem Ausscheiden widmete sie sich wieder der Regiearbeit und schuf ein Portrait der (ost)deutschen Fotografin Helga Paris (2019). Ihr letzter abendfüllender Dokumentarfilm Die Frau des Dichters beschäftigt sich mit der türkischen Künstlerin Güler Yüsel (1935-2020) und steht kurz vor seiner Premiere. Misselwitz ist seit 1991 Mitglied der Akademie der Künste und seit 2018 stellvertretende Direktorin der Sektion für Film- und Medienkunst.
 

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