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Bauhaus 100
Die Bauhaus-Prinzipien von Walter Gropius: In seinen eigenen Worten

Harry Seidler mit Walter & Ise Gropius vor dem Julian Rose Haus von Seidler, Mai 1954 | Foto von Max Dupain, Erstdruck Jill White 2003
Harry Seidler (links) mit Walter & Ise Gropius vor dem Julian Rose Haus von Seidler, Mai 1954 | Foto von Max Dupain, Erstdruck Jill White 2003 | © State Library NSW

1954 lud der bekannte australische Architekt Harry Seidler den Bauhaus-Gründer Walter Gropius nach Sydney ein. Im Zuge seines Aufenthalts hielt Gropius als Ehrengast einen Vortrag bei der nationalen Sendeanstalt ABC. Seidlers Frau und professionelle Partnerin, Penelope Seidler, überließ dem Goethe-Institut Australien freundlicherweise ein vollständiges Transkript. Obwohl die Rede weit über ein halbes Jahrhundert alt ist, hat sie mit ihrer Konzentration auf das Ringen zwischen der Kunst und dem unaufhaltbaren Vormarsch des technischen Fortschritts auch heute nichts an Aktualität eingebüßt.

„Wie stellen Sie sich den Designcharakter Ihrer zukünftigen Städte, Gebäude und Alltagsgüter vor? Sind Sie zuversichtlich, dass die Welt eines Tages einen ausdrücklich australischen Regionalcharakter der Architektur erleben wird, der sich aus Ihrer Landschaft, Ihren Gewohnheiten und Ihrer eigenen Kultur speist und mit einheimischer Kreativität entwickelt wurde? Alle zivilisierten Länder, die die unausweichliche soziale Revolution unserer Epoche durchlaufen haben, sehen sich vor eben dieses zentrale kulturelle Problem gestellt, wie sie – mit zeitgenössischen Mitteln – jene Einheit und Schönheit vormaschineller Kulturen wiedererlangen können, die im industriellen Umbruch verloren gingen.

Es besteht kein Zweifel, dass die meisten Menschen von dem Ringen zwischen traditionellen und modernen Vorstellungen von Design nach wie vor zutiefst verwirrt sind, das in unseren Städten und Häusern so offenkundig ist. Ich erinnere mich, dass vor diesem letzten Krieg die moderne Strömung im Architektur- und Industriedesign von den Nazis seltsamerweise als „bolschewistisch“, von den Russen als zur „westlichen Bourgeoisie“ gehörig gebrandmarkt wurde, während die demokratischen Länder sich nicht entscheiden mochten.

Welche architektonischen Formen tauchen vor Ihrem geistigen Auge als wahrhaft modern auf? Sind es Flachdächer, große Fenster, auskragende Deckenplatten und aufgeständerte Betonflügel? Nun, dabei handelt es sich nur um einige äußerliche Merkmale von modernem, funktionalem Design. Wenn wir jedoch genauer hinsehen, stellen wir fest, dass sich Design von innen nach außen verändert hat, im Einklang mit dem menschlich-gesellschaftlichen Fortschritt und der Entwicklung unserer neuen Produktionsmittel, nicht nach Maßgabe dieser oder jener kurzlebigen Mode oder politischen Regierungsform. Das Augenmerk seines neuen Geistes liegt darauf, einen freier entwickelten Grundriss zu entwerfen und die großen Fortschritte, die in Wissenschaft und Technik gemacht wurden, geschickt einzusetzen. In allen zivilisierten Ländern haben die Wurzeln modernen Designs mittlerweile den Treibsand fluktuierender Modeerscheinungen durchstoßen und sind auf festem kulturellem Boden angelangt. Seine soliden Grundsätze, die von einer Generation bahnbrechender Designer etabliert wurden, haben bereits so hohe Standards entwickelt, dass sie von vergänglichen politischen Mächten nicht mehr zerstört werden können. Ist dies ein Symptom dafür, dass wir an der Schwelle einer neuen Kultur stehen?

Wenn solche zeitgenössischen Designstandards jedoch bereits existieren, warum ist dann die Form so vieler Häuser und Alltagsgüter, hier ebenso wie im Ausland, immer noch in sich widersprüchlich und ignoriert häufig, was wir unsere neue Sprache der Vision nennen könnten? Hat womöglich die rasante Geschwindigkeit der spirituellen und intellektuellen Revolution unserer Zeit die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit überschritten? Denn auch wenn unser Intellekt in der Lage ist, die Bedeutung von Veränderungen schnell zu erfassen, ist es dennoch ein langer Weg bis zur Umwandlung von neuem Wissen in eine weithin anerkannte Form, in definitive Gewohnheiten des künstlerischen Ausdrucks. Im Vergleich zur vorherrschenden Haltung gegenüber Kunst und Design in der letzten Generation scheint der Transformationsprozess in unserer Zeit in der Tat rapide und radikal zu sein.

Die soziale Revolution, die von der Erfindung und Entwicklung der Maschine ausgelöst wurde, hatte das langsame, regionale Wachstum der kreativen Kunst abrupt abgeschnitten. Das erfolgreiche, gigantische Ringen darum, sich mit der Maschine zu arrangieren und sie unter Kontrolle zu bekommen, hatte den Großteil der Vitalität und Schaffenskraft jener Generation absorbiert. Das alte Konzept der fundamentalen Einheit aller Kunst in ihrer Relation zum Leben ging in der Maschinenrevolution verloren. Alles, was blieb, war eine oberflächliche „Kunst um ihrer selbst willen“. Man machte Anleihen bei den äußeren Formen früherer Kunstepochen und setzte sie kommerziell ein, um ausschließlich die Mentalität des Geschäfts als Selbstzweck zu bedienen. Guter Geschmack wurde zum Ersatz für kreative Kunst. Der Architekt wurde zum Archäologen. Das Design war auf dem Weg zu einer „Schonbezug“-Zivilisation. Eine Handelsmentalität hatte den Wunsch nach einem ausgewogenen Leben abgelöst, die Arbeit der Fantasie war verdächtig und anrüchig geworden. Aber hat nicht seit jeher der Denker, der Dichter, der Künstler die zukünftige Richtung menschlicher und spiritueller Entwicklung bestimmt; der Mann mit Vision und nicht der Materialist? Walter Gropius und Harry Seidler, Mai 1954. Foto von Max Dupain. Sammlung: National Portrait Gallery, Canberra. Gekauft mit Mitteln von Timothy Fairfax AC, 2003 Walter Gropius und Harry Seidler, Mai 1954. Foto von Max Dupain. Sammlung: National Portrait Gallery, Canberra. Gekauft mit Mitteln von Timothy Fairfax AC, 2003 | Nachahmung war zu einer fatalen Gewohnheit geworden, die jedoch schwer auszumerzen war. Die Menschen glaubten devot, dass Schönheit etwas war, das vor Jahrhunderten in Griechenland und Italien entschieden wurde, und dass wir nichts tun können, als sie sorgfältig zu studieren und dann wieder auf unsere eigene Umgebung anzuwenden. Woran denken wir, wenn wir sagen, ein Gebäude ist im alten, klassischen Sinn schön – denken wir an seine Säulen, Kolonnaden und Gesimse? Aber sind das die Form und die Elemente, die unserer heutigen Lebensart gerecht werden können, die so anders ist als die vergangener Zeiten? Das simple Beiwort „schön“ ist zur trügerischsten aller Bezeichnungen geworden. Denn viele sehen Schönheit als ausschließlich mit den Errungenschaften der Vergangenheit verknüpft, weil Vorurteile sie davon abhalten, sich an eigenständigen Erscheinungsformen lebendiger Kunst zu erfreuen. Sie fallen dem weit verbreiteten Aberglauben zum Opfer, dass Gebäude in einem Stil statt mit Stil errichtet werden sollten. Statt ihre Gebäude an ihre immanenten Wünsche anzupassen, passen sie sich selbst an jeden beliebigen Stil an, um stilvoll zu sein, und verlieren so ihre Freiheit. Versklavt von der fixen Idee, dass Schönheit klassisches Design bedeutet, ist ihnen nicht bewusst, dass Schönheit, mag sie auch ewig sein, ihren Ausdruck ständig verändert. Denn sie verblasst, sobald wir aufhören, sie unablässig zu erneuern. Etablierte Schönheitsstandards lösen sich mit sich verändernden Lebensstandards auf: Sie können nicht zur späteren Wiederverwendung irgendwo gelagert werden. Tradition bedeutet weder die Nachahmung der Vergangenheit noch die träge Akzeptanz vergangener ästhetischer Formen.

Versuchen Sie doch einmal, in Ihrem eigenen Zuhause den Ursprung der Form der verschiedenen Teile ihres Haushalts unter die Lupe nehmen. Welche davon weisen zeitgenössische Formen auf? Ganz sicher Kühlschränke, Badezimmerarmaturen, Heizungen, Glühbirnen – aber was ist mit Ihren Möbeln und Ihren Teppichen, Ihren Fenstern und dem Äußeren Ihres Hauses? Vergleichen Sie Ihre aktuelle Umgebung mit einem beliebigen Originalbeispiel aus der georgianischen, gotischen oder griechischen Epoche. Kam es den Architekten und Klienten dieser großen Epochen jemals in den Sinn, so wie wir den Stil ihrer Vorfahren nachzuahmen? Nein: Sie waren stolz darauf, Wegbereiter für eine neue, eigene Formensprache zu sein. Ihre neuen technischen Verfahren führten zu neuen und angemessenen Formeigenschaften, die sie akzeptierten. Was sie Tradition nannten, war ein fließender Prozess stetiger Erneuerung und Formveränderung. Wir missverstehen die kreative Bedeutung von Tradition, wenn wir versuchen, irgendeinen ihrer Abschnitte zu perpetuieren. Denn ihre Natur ist dynamisch, nicht statisch. So ist beispielsweise der Kolonialstil, der in England begann und in den Vereinigten Staaten weiterentwickelt wurde, gewiss schön. Wir alle schätzen ihn. Er brachte die Lebensbedingungen seiner Zeit hervorragend zum Ausdruck. Aber unser heutiger Lebensstil, unsere Produktionsmittel, unterscheiden sich aufs Schärfste von denen der Kolonialzeit. Es ist eine armselige und schwache Leistung, den Großteil zeitgenössischer Gebäude mit kolonialen Säulen oder viktorianischen Zierleisten und Schnickschnack zu verhüllen. Können wir nicht aus dieser abstumpfenden Trägheit und Selbstzufriedenheit heraustreten, hin zu unseren eigenen Konzepten und Visionen?

In der Tat war eine Revolution gegen sentimentale Pseudokunst fällig. Eine lebendige Kunst, notwendig und unverzichtbar für die ganze Gemeinschaft, wurde zum Ziel einer neuen Generation bahnbrechender Designer. Sie haben wiederentdeckt, dass der Mensch der Schwerpunkt aller Gestaltung sein sollte, dass eine Belebung durch einfache Mittel, abgeleitet aus der natürlichen Umgebung, erforderlich ist, um neue Räume zum Leben neu aufzubauen, befreit von ästhetischen „Stunts“ und entliehenen Verzierungen. Die Wissenschaft muss als Absicherung dagegen dienen, in ästhetische Sentimentalität zurückzufallen. Das wissenschaftliche Wissen des Menschen über sich selbst, über die Natur, muss die praktischen Antworten – griffig und aussagekräftig – auf die vielen neuen Anforderungen des Lebens liefern, psychologisch, technisch und wirtschaftlich. Im Gestaltungsprozess muss die Wissenschaft den Zweck bestimmen. Aber die Anforderungen, die der Form auferlegt werden, sind rein spiritueller Natur. Die Form ist kein Produkt des Intellekts, sondern des menschlichen Verlangens und Träumens, eng verbunden mit dem Individuum, den Menschen und Ort und Zeit. Kreatives Design muss sowohl den spirituellen als auch den materiellen Lebensbedürfnissen gerecht werden; es muss den menschlichen Geist erneuern, indem es Wissenschaft in Kunst verwandelt. Kann es irgendeinen Zweifel daran geben, dass die Suche nach solch einer grundlegenden, organischen Einfachheit von Form, Farbe und Funktion für unsere Gemeinschaften, Häuser und Werkzeuge eine Aufgabe ist, die dem vormaligen Herumprobieren mit geliehenem klassischem Design und einer wechselnden Dosis modernem Geschmack weit überlegen ist?

In der Tat haben die neuen Gestaltungsprinzipien ihre Solidität bereits unter Beweis gestellt. Langsam aber sicher werden sie jene „Trautes Heim“-Mentalität mit unechten, über Glühlampen gestülpten Kerzenleuchtern oder diesen eleganten Hausfassaden hinwegfegen, die wie Zwangsjacken ein freieres, natürlicheres Leben der Bewohner verhindern. Diejenigen, die sich in diese sentimentale und veraltete Traumwelt zurückgezogen haben, werden Segnungen wie das mühelose Verhältnis zwischen innerem und äußerem Wohnraum durch große Fenster, die vereinfachte Hausarbeit oder hochwertige, von falschem Schein befreite Einrichtungsgegenstände und Utensilien entbehren müssen.

Bereits vor einer Generation warnte der große amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson die amerikanischen Wissenschaftler vor imitativem Design. Er erklärte: „Wer heißt uns, den Dorischen oder Gotischen [Stil] nachahmen? ... wenn der amerikanische Künstler mit Hoffnung und Liebe prüfen wird, was eben er zu thun hat, wenn er das Klima, den Boden, die Länge der Tage, die Bedürfnisse des Volkes, die Regierungsform des Landes in Betracht zieht, dann wird er auch ein Haus bauen können, mit welchem all diesen Genüge gethan und doch auch Geschmack und künstlerisches Gefühl zugleich befriedigt sein werden.“ Diese Worte sind heute so angemessen wie damals. Sie nahmen genau das Credo des modernen Architekten und Designers vorweg. Hier also scheint der wahre Geist der Tradition zu liegen, der uns in Zukunft leiten wird!

Die soliden Prinzipien modernen Designs, für die uns ausreichend Belege vorliegen, sind einsatzbereit. Zudem stehen uns materielle Mittel im Überfluss zur Verfügung, um moderne Städte und Häuser im Geiste des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts zu bauen. Aber sicherlich müssen zuerst der richtigen Mentalität und einem Willen der Boden bereitet werden, aus der vorangehenden Pionierarbeit einiger weniger ein Muster für unsere Gemeinschaften zu machen. Die Bildung muss in unserer heranwachsenden Generation die Überzeugung wiederherstellen, dass Schönheit eine grundlegende Notwendigkeit des Lebens ist und die Präsenz menschengemachter Schönheit in unserem Umfeld ein untrügliches Zeichen einer reifen und würdigen Zivilisation sein wird.

Die Bedingungen, die heute von einer hochentwickelten Wissenschaft hervorgebracht werden, wirken wie eine brennende Herausforderung, dass wir diese grandiose Gelegenheit ergreifen sollten, für einen endgültigen kulturellen Erfolg der Quantität die Qualität hinzuzufügen. Eine solche Entwicklung wird vollkommen von Ihnen und mir abhängen, davon, ob der Durchschnittsmensch sich gleichgültig verhält oder ob er versteht, reagiert und handelt.“

Um anlässlich ihres 100. Jubiläums des weltweiten Einflusses der Bauhaus-Schule für Design, Architektur und angewandte Kunst zu gedenken, präsentiert das Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit seinen australischen Partnern Ausstellungen, zeigt Filme, bringt internationale Künstlerinnen und Künstler zusammen und diskutiert die Bedeutung der Schule mit führenden Forscherinnen und Forschern. Für weitere Informationen zu unserem Programm für 2019 klicken Sie bitte hier.
 

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