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Bicultural Urbanite Brianna
Der 1. Mai: Proteste, Partys und Frühlingsanfang

1. Mai 2008: Die Bereitschaftspolizei bahnt sich auf der Oranienstraße in Kreuzberg ihren Weg durch die Massen.
1. Mai 2008: Die Bereitschaftspolizei bahnt sich auf der Oranienstraße in Kreuzberg ihren Weg durch die Massen. | © Brianna Summers

Der 1. Mai ist ein wichtiges Datum im deutschen Kalender. Der Tag ist ein Festtag für den lang ersehnten Frühling, ein gesetzlicher Feiertag, ein Tag des Protests und ein Anlass, um einen langen Holzpfahl zu tanzen und Starkbier zu trinken. In Berlin gehört das Straßenfest ‚Myfest‘ in Kreuzberg zu den Hauptattraktionen. Wer mit Menschenmassen klarkommt und gerne Leute beobachtet, sollte das ‚Myfest‘ nicht auslassen.

Von Brianna Summers

Mir persönlich geht es beim 1. Mai in erster Linie darum, die Fesseln des fünf Monate langen Berliner Winters abzuwerfen. Der April liefert zwar einen verlockenden Vorgeschmack auf den Frühling, kann aber trotzdem noch ziemlich unberechenbar sein. Am einen Tag hüpfen die Vögel lautstark in Bäumen herum, an denen neuen Zweige sprießen, und am nächsten schneit es. Die Deutschen haben sogar ein Sprichwort dafür: April, April, er macht, was er will. Aber wenn dann endlich der Mai kommt, hat sich das bedrückende Grau endlich gehoben, überall in der Stadt wird es grün und die Menschen stehen mit strahlenden Gesichtern auf den Straßen und folgen mit geschlossenen Augen wie Menschenblumen dem Lauf der Sonne.

Wie vielerorts auf der Welt ist der 1. Mai auch in Deutschland Tag der Arbeit. Im ganzen Land markieren die Gewerkschaften das Datum, indem sie Kundgebungen und Demonstrationen organisieren, die sich an versammelten Schaulustigen, Bierlastern und Würstchenbuden vorbeischlängeln. Der Tag der Arbeit wird seit langem mit dem Kampf um Arbeiterrechte assoziiert, wurde jedoch erst zum gesetzlichen Feiertag erklärt, als er 1933 von den Nazis kooptiert wurde. Den Feiertag gibt es heute noch, allerdings mit waschechtem sozialistischem Flair.

VON KRAWALLEN ZU STRASSENFESTEN

Der 1. Mai wurde in der deutschen Geschichte häufig von Gewalt überschattet, und Berlin ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Brennpunkt für antikapitalistische Rebellion und Anarchie geworden. 1987 brachen in Kreuzberg schwere Unruhen aus, bei denen sich die Polizei zum vollständigen Rückzug aus dem Südosten des Kiezes (SO 36) gezwungen sah. Während der 1. Mai von manchen immer noch als Gelegenheit missbraucht wird, ihrer Anti-Establishment-Haltung tatkräftigen Ausdruck zu verleihen, ist der Feiertag seit der Gründung des Myfest-Straßenfests um einiges weniger gewalttätig geworden.
Das 'Myfest'-Straßenfest 2008 in Kreuzberg. Das 'Myfest'-Straßenfest 2008 in Kreuzberg. | © Brianna Summers
Das Festival wurde 2004 von einem Bündnis aus Kreuzberger Anwohnern, Gewerbetreibenden und bürgerschaftlichen Initiativen initiiert. Die Straßen sind mit Livemusik-Bühnen gesprenkelt, im Görlitzer Park finden Impromptu-Raves unter freiem Himmel statt, Geschäfte richten ihre eigenen Cocktailbars ein und Anwohner verkaufen hausgemachte Snacks wie Gözleme und Bratwurst. Obwohl es sich um ein familienfreundliches Event handelt, ist eine starke Polizeipräsenz vor Ort und Schutzausrüstung nach wie vor de rigueur, denn der Einbruch der Dunkelheit neigt vor allem im Gebiet um das Kottbusser Tor in Kreuzberg dazu, Leute zu beflügeln, die darauf aus sind, es „denen da oben“ in Form von willkürlicher Sachbeschädigung „mal so richtig zu zeigen“. (Das ist auch der Grund, warum Banken und manche Geschäfte ihre Fenster schon im Vorhinein verbarrikadieren.)

Hut ab vor den Leuten, die auf die Myfest-Idee kamen. Wie könnte man Menschen besser davon abhalten, Autos anzuzünden und Steine auf Polizisten zu werfen, als eine riesige Party zu schmeißen?

WALPURGISNACHT: DIE PARTY VOR DER PARTY

Aber man muss gar nicht auf den 1. Mai warten, um die Hüften zu schwingen oder an einem aberwitzig üppigen Mojito zu nippen. Die Nacht davor ist Walpurgisnacht, ursprünglich der Vorabend eines christlichen Feiertags, heutzutage jedoch die ideale Ausrede für eine ganze Reihe von Tanz in den Mai-Partys. Manchmal haben diese Partys ein Hexenmotto, denn dem deutschen Volkstum zufolge ist dies die Nacht, in der sich die Hexen am höchsten Gipfel des norddeutschen Harz-Gebirges versammeln (ich stelle mir gerne vor, wie sie Flying Hirsch trinken und zu Deichkinds Remmidemmi mitsingen).

In Regionen wie Bayern hingegen scheint der Maifeiertag eine idyllische und feuchtfröhliche Angelegenheit zu sein. Was auch gut so ist, denn eine große Anzahl von Polizeikräften aus Bayern (und aus ganz Deutschland) wird während des Feiertags nach Berlin abgestellt. Die Anwohner stellen für ihre örtlichen Maifeierlichkeiten große Holzpfähle auf, die Maibäume, trinken Maibock-Starkbier und entzünden Maifeuer, um Hexen und böse Geister abzuwehren. In manchen Regionen in Deutschland und Österreich gibt es zudem eine Tradition, die Maistrich genannt wird. Dabei wird in der Nacht zum 1. Mai eine Kreidelinie zwischen den Häusern zweier Menschen gezogen, die sich lieben (oder vielleicht bald lieben werden), die in einem Herzen und den Initialen der beiden Beteiligten endet – im Prinzip eine etwas aufwändigere Version des Nach-rechts-Wischens.

Kurzum, der Maifeiertag hat für jeden etwas zu bieten. Man kann für mehr Rechte am Arbeitsplatz demonstrieren, sich von seinem Walpurgisnacht-Kater erholen, inmitten von Tausenden anderer Feiernder Bier aus Plastikbechern trinken oder sich einfach über einen freien Tag freuen, an dem man die warme Frühlingssonne so richtig genießen kann.

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