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Bicultural Urbanite Brianna
Besetzungen, Räumungen und Wohnungsnot in Berlin

Nahaufnahme vom Liebig34 in Friedrichshain, Berlin
© Brianna Summers

Die Räumung besetzter Häuser ist ein gewohnter Anblick in Berlin, der nur selten große öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Doch zuletzt hat das Ende des Wohnprojekts Liebig34 Proteste ausgelöst, die Debatte über die Gentrifizierung wieder angeheizt und Fragen nach den Prioritäten der Stadt aufgeworfen.

Von Brianna Summers

In den frühen Morgenstunden des 9. Oktober marschierten rund 1500 Polizisten voller Kampfmontur in Friedrichshain auf. Aber sie waren nicht ausgerückt, um auf einen Terroranschlag oder rassistisch motivierte Gewalt zu reagieren. Sie waren entsandt worden, um etwa vierzig Frauen, Transgenderpersonen und intersexuelle Menschen aus einem besetzten Haus in der Liebigstraße 34 zu vertreiben. Liebig34 (Abbildung oben) ist eines der letzten besetzten Häuser in Berlin. Die Beamten stellten Sperrzäune auf, um Demonstranten und Journalisten fernzuhalten, während andere Einsatzkräfte mit Kettensägen und Trennschleifern den von den Besetzer*innen errichteten Barrikaden zuleibe rückten. Kurze Zeit später eskortierten oder trugen die Polizisten die Bewohner der Reihe nach über eine mobile Rampe aus einem Fenster im ersten Stock des Hauses. Wie konnte es soweit kommen?

Besetzte Häuser sind seit fast fünfzig Jahren Teil der Wohnlandschaft der Stadt. Die erste Welle von Hausbesetzungen war eine Reaktion auf die Wohnungsnot in West-Berlin in den siebziger Jahren. Junge Leute, die oft gemeinsame politische Vorhaben verfolgten (zum Beispiel Antifa-Bewegung, Antikapitalismus, Feminismus), besetzten zahlreiche Häuser in Schöneberg und Kreuzberg. Der Fall der Mauer im Jahr 1989 löste eine zweite Besetzungswelle im Osten der Stadt aus. Aus Angst vor einer erneuten Schließung der Mauer flohen viele Ostberliner in den Westen und ließen vollkommen möblierte Wohnungen zurück, die auf neue Bewohner warteten. In den Bezirken Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg und angrenzenden Stadtteilen wurden über 130 Wohnhäuser besetzt. Das Kunsthaus Tacheles mit Biergarten und Skulpturenpark im Jahr 2008 Das Kunsthaus Tacheles mit Biergarten und Skulpturenpark im Jahr 2008 | © Brianna Summers

Ein Teil von Berlins besonderem Reiz


Seit damals wurden viele besetzte Häuser geräumt und wieder auf den Markt gebracht. Einige Besetzungen haben als legale kommunale Wohnprojekte Bestand gehabt, die Raum für eine alternative Lebensführung, Kreativität und Diversität bieten. Ein Beispiel ist das Kunsthaus Tacheles, das in Berlin Mitte in einem nicht genutzten Kaufhausgebäude entstand und Raum für eine Vielzahl kultureller Angebote bot, die zu einer der beliebtesten Touristenattraktionen der Stadt machten. Im Jahr 1998 wurden die Künstler rechtmäßige Mieter, die eine symbolische Miete von 1 D-Mark zahlten. Später wurde das Gebäude jedoch verkauft, und der Mietvertrag wurde nicht verlängert. Nach jahrelangem Hin und Her löste sich das Kunsthaus im Jahr 2012 schließlich auf. Eine weitere einzigartige kulturelle Attraktion der deutschen Hauptstadt war im Namen von Fortschritt und Profit geopfert worden.

Das Tacheles ist nicht mehr, aber in Berlin gibt es immer noch zahlreiche Wohnprojekte, die aus Hausbesetzungen hervorgegangen sind. Aber sie sind nach wie vor eine bedrohte Art, denn selbst zeitlich unbeschränkte Mietverträge sind kein Schutz vor der Räumung. Im vergangenen Jahrzehnt sind die Nachfrage nach Wohnraum und damit auch die Immobilienpreise rasant gestiegen, so dass den Käufern steigende Gewinne winken. Immobilieninvestoren, die diese Entwicklung nutzen wollen, modernisieren ihre Häuser, um massive Mieterhöhungen zu rechtfertigen – so werden die Mitglieder alternativer Wohnprojekte und andere Mieter verdrängt. Diese Entwicklung sorgt für erhitzte Debatten in der Stadt, da die meisten Berliner ihre Wohnung gemietet haben. Straßenansicht von Liebig34 Das queer-feministische Wohnprojekt Liebig34 in Friedrichshain drei Tage nach der Zwangsräumung | © Brianna Summers

Leb wohl, Liebig34


In den meisten Fällen ist diese direkte oder indirekte Verdrängung unsichtbar. Aber einige Zwangsräumungen wie die von Liebig34 finden ein großes Medienecho. Das 1990 gegründete queer-feministische Wohnprojekt war zugleich Wohnraum, Gemeindezentrum und Zufluchtsort für Frauen und LGBTQI-Personen aus der linksradikalen Szene. Nachdem der Immobilienmogul Gijora Padovicz das Haus bei einer Zwangsversteigerung erstanden hatte, unterzeichneten die Hausbesetzer*innen im Jahr 2008 einen Mietvertrag,. Die Bewohner*innen betrieben eine Bar und ein Veranstaltungszentrum namens X-Beliebig, um die Mietkosten zu decken. Sie boten kostenloses Internet, Zeitungen und „revolutionäres Material“ an. Als der Mietvertrag im Jahr 2018 nicht verlängert wurde, gingen sie wieder zur Besetzung über.

Liebig34 wurde zu einem Symbol für den Kampf gegen die Gentrifizierung im Allgemeinen und die Zerstörung der Freiräume für die Berliner Subkultur im Besonderen. Im Vorfeld der Zwangsräumung nahmen Mitglieder anderer Wohnprojekte sowie Personen, die gegen den Berliner „Mietenwahnsinn“ und die Verdrängung von Bewohnern durch steigende Mieten kämpfen, an zahlreichen „Solidaritätskundgebungen“ teil. Proteste gegen die Gentrifizierung sind mittlerweile an der Tagesordnung, und das Immobilienimperium von Gijora Padovicz stößt nicht zum ersten Mal auf öffentlichen Widerstand.

Vorrang für den Profit


Plakat von Einwohnern von Liebig34 Wenige Tage vor der Zwangsräumung riefen die Besetzer*innen von Liebig34 die Anwohner auf, das Wohnprojekt zu unterstützen | © Brianna Summers Bewohner regulärer Mietshäuser im Besitz der Padovicz-Gruppe haben diese wiederholt beschuldigt, Aufforderungen zur Instandsetzung der Wohnungen zu ignorieren und Mietwucher zu betreiben. Andere haben bei den Behörden Beschwerden über eine missbräuchliche Nutzung von Wohnimmobilien eingereicht: Sie werfen Padovicz vor, Wohnungen gezielt leer stehen zu lassen oder mit einer großen Zahl von Migranten zu füllen. Mit solchen Taktiken wird versucht, den Bewohnern das Leben schwer zu machen und sie zum Auszug zu nötigen. Steht ein Haus einmal leer, kann Padovicz es renovieren und die Wohnungen zum doppelten Preis vermieten. Mieter genießen in Deutschland umfangreiche Rechte und werden gut geschützt, weshalb es schwierig und teuer sein kann, sie aus ihren Wohnungen zu verdrängen. Daher ist es aus Sicht eines Investors sehr viel vorteilhafter, wenn die Mieter dazu bewegt werden können, „aus freien Stücken“ auszuziehen. Eine von Padoviczs Praktiken betroffene Gruppe von Mietern startete sogar einen Blog über ihn, um die Praktiken seines Unternehmens anzuprangern.

Am Abend des 9. Oktober marschierten rund 1700 Demonstranten zum Protest gegen die Räumung von Liebig34 durch den Bezirk Mitte, warfen Schaufenster ein und setzten zwölf Autos in Brand. Natürlich heiße ich Gewalt nicht gut, aber ich verstehe ihre Wut. Ich habe miterlebt, wie der Berliner Wohnungsmarkt in den Wahnsinn abglitt. Meine Lieblingslokale sind seit langem geschlossen, was oft an extremen Mieterhöhungen lag, und ich habe Freunde, denen es seit Monaten oder sogar Jahren schwerfällt, eine halbwegs zentral gelegene Wohnung mit einer erschwinglichen Miete zu finden. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich die Wohnprojekte behaupten können, dass die Berliner Mietpreisbremse den Machenschaften der Immobilienhaie einen Riegel vorschiebt und dass die öffentliche Hand die verbleibenden unersetzlichen Kulturräume kauft, bevor sie von Investoren übernommen werden.

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