Bicultural Urbanite Luke
Deutralisch werden

Sicherstellen, dass das Wasser auch sprudelt.
Sicherstellen, dass das Wasser auch sprudelt. | © Isabelle Beyer

Nach meiner Ankunft in Berlin entwickelte ich eine gewisse Schwärmerei für 'zee Germans'. Im Vergleich zu den Australiern erschien mir alles an den Deutschen so liebenswert ernsthaft und ordentlich.

Ich war verzaubert davon, wie sie sprachen – langsam und bewusst, unter sorgfältiger Beachtung der Fakten und ohne jenen hirnlosen Fluss von Belanglosigkeiten, der einen Großteil des amerikanisierten Englisch in der Innenstadt von Melbourne kennzeichnet. Kein oberflächliches „OMG!“-Gefasel oder überzogene Komplimente. Die Wörter „like“, „so“ und „totally“ fehlten in der Alltagssprache der Deutschen like so totally. Ich empfand sogar die singende Sprachmelodie ihres Akzents als wohltuend.
 
Lange Zeit vermied ich unbewusst andere Expats – insbesondere anderen Australierinnen und Australiern zeigte ich die kalte Schulter – und machte mich daran, mich mit so vielen Deutschen wie nur irgend möglich anzufreunden. Wann immer ich unterwegs junge Berlinerinnen und Berliner traf, war ich davon beeindruckt, wie viel erwachsener und gewiefter sie mir im Vergleich zum 20-jährigen Durchschnitts-Melbourner zu sein schienen. Wenn man aus einer Kultur kommt, wo um den heißen Brei herumreden nicht nur eine Redewendung, sondern eine Lebensweise ist, war die unverhohlene Direktheit der deutschen Inquisition erfrischend. Der deutsche Umgang mit sozialen Interaktionen hatte eine Art coole Freimütigkeit, die vor Kultiviertheit nur so zu strotzen schien.

Erpicht auf das Abwerfen kultureller Fesseln

Ich beobachtete voller Bewunderung, wie sich selbst winzige deutsche Kinder respektvoll auf den Straßen zurechtfanden; vollkommen unbeaufsichtigt spazierten sie mit ihren kleinen Rucksäcken pflichtbewusst von der Schule nachhause wie Miniatur-Erwachsene. Das würde im großstädtischen Melbourne schlichtweg nie passieren, wo Kinder typischerweise im Auto von Haus zu Haus transportiert werden und ganz allgemein bis weit ins Jugendalter hinein betüdelt werden. Aber hier schien das Ganze völlig problemlos zu funktionieren. Ich war erpicht darauf, die kulturellen Fesseln meiner primitiven Aussie-Herkunft abzuwerfen und einen Treueeid auf diese hochentwickelte Gesellschaft ernsthafter Charaktere zu schwören.

Ich und die Deutschen zu Beginn meiner Berlin-Zeit. Ich und die Deutschen zu Beginn meiner Berlin-Zeit. | © Tsari Paxton Natürlich kann dieser erste Überschwang nicht ewig anhalten. Irgendwann, während ich mich dort so richtig einrichtete, möglicherweise während einer der äußerst zahlreichen unerquicklichen Diskussionen mit einem der äußerst zahlreichen unerquicklichen Bürokraten, oder als eine beliebige deutsche Person zum fünfhundertsten Mal denselben superlustigen Star-Wars-Witz riss, als sich herausstellte, dass ich Luke hieß, fiel der Groschen. Und mit ihm auch die rosa Brille.

Eine menschliche Einstellung zur Bürokratie

Und so begann die Herausbildung eines viel nüchterneren Blicks – nicht nur auf die Deutschen in Berlin, sondern auch auf die Australier daheim. Jetzt, viele Jahre später, gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die ich an den Australiern schätzen und vermissen gelernt habe. Ich vermisse die entspannte, liebenswürdige Art, wie Fremde miteinander umgehen; die flexiblere, menschlichere Einstellung zur Bürokratie (anstatt blind einem vorgegebenen Regelwerk zu folgen, das scheinbar ausschließlich den Regeln zuliebe existiert); ich vermisse, dass man höflich als geschätzter Kunde behandelt wird, wenn man sein hart verdientes Geld für eine Dienstleistung ausgibt, selbst wenn diese Höflichkeit rein oberflächlich ist (darin besteht nun mal die Natur einer Dienstleistung, und das ist auch gut so).

Am meisten vermisse ich jedoch den australischen Humor. Ich vermisse den Schwung seines sardonischen Witzes, den beißenden Fluss von Geplänkel; die inhärente Wertschätzung unterschwelliger Ironie und dass meine Witze ohne Erklärung verstanden werden. Während allgemeine Ernsthaftigkeit und Seriosität in zahlreichen gesellschaftlichen Situationen ein Segen sein können, haben sie anscheinend auch ihren Preis. Kurzum, ich brauchte lange, um es zu begreifen, aber alles, was mich an Australiern stört, hat oft auch seine positive Kehrseite. Dazu kommt, dass all das im tiefsten Inneren immer ein Teil von mir sein wird, ob mir das nun gefällt oder nicht.
 
Die Moral von der Geschichte ist wohl, dass alle nationalen und kulturellen Identitäten ihre Vor- und Nachteile haben. Kein gesellschaftliches Modell ist perfekt, und wir täten alle nicht schlecht daran, uns die Herangehensweisen des jeweils anderen anzuschauen, um unsere eigene Lebensart unter die Lupe zu nehmen und zu bereichern. Ich werde nie perfekt nach Deutschland passen, aber wenn ich heute nach Australien zurückkehre, sagen mir die Leute, dass ich seltsam rede, ich bin enttäuscht, wenn mein Wasser nicht sprudelt, und es ist mir regelrecht unangenehm, wenn jemand, den ich gerade erst auf einer Party getroffen habe, anfängt, mich vollzuschleimen, wie totally amazing mein schlichtes weißes T-Shirt ist. Nicht länger rein australisch, aber weit davon entfernt, Deutscher zu sein, bin ich möglicherweise deutralisch geworden. Und das ist vielleicht gar kein so schlechter Kompromiss.