Bicultural Urbanite Brianna
Walk this way: Fremdenführer in Berlin

Touristen fotografieren bei der Stadtführung „Alternatives Berlin“.
Touristen fotografieren bei der Stadtführung „Alternatives Berlin“. | © Brianna Summers

Wir schreiben das Jahr 2008. Sie sind jung, neu in Berlin und Ihr deutsches Vokabular besteht aus ‚Guten Tag‘ und Floskeln, die Sie bei ‚Kommissar Rex‘ aufgegabelt haben. Ihre Anstellungsmöglichkeiten sind einigermaßen beschränkt, aber Sie sind wild entschlossen, hier zu bleiben, so dass Sie mit Freuden lärmenden Backpackern Bier servieren oder Toiletten schrubben, um ihr Ziel zu erreichen.

Nicht zuletzt dank der aufstrebenden Start-up-Szene ist es heutzutage wesentlich leichter für einsprachige Australier, in Berlin sinnvolle Arbeit zu finden, aber damals waren Englisch unterrichten oder Fremdenführer werden die besten Optionen, ein Einkommen (und ein Visum) zu ergattern.

Ich kam mit Berlins englischsprachiger Fremdenführer-Diaspora zum ersten Mal vor über zehn Jahren in Kontakt, als ich als Rezeptionistin in einer Jugendherberge arbeitete. Jeden Tag kamen Fremdenführer vorbei, um Gäste zu ihren kostenlosen Stadtrundgängen abzuholen. Für einige war diese Tätigkeit lediglich Mittel zum Zweck. Sie gaben ihr Trinkgeld für billigen Fusel und EasyJet-Wochenenden aus, bevor sie nach ein oder zwei Jahren wieder nach Hause zurückkehrten. Andere dagegen machten aus der lustwandelnden Präsentation deutscher Geschichte eine Karriere und sind auch heute noch da.

Fahrradtour-Führerin Merren auf dem Tempelhofer Feld. Fahrradtour-Führerin Merren auf dem Tempelhofer Feld. | © Merren McClean Taylor und Merren sind zwei solche Fremdenführer. Ursprünglich aus Victoria stammend, haben sie sich wie Chamäleons erfolgreich an ihre neue Umgebung angepasst und ihre ideale Nische gefunden. Sie zeigen Urlaubern leidenschaftlich gerne ihre Wahlheimat, und auch wenn sie ab und zu mit der Idee spielen, sich einen „richtigen Job“ zu suchen, bezweifeln beide, dass sie je nach Australien zurückkehren werden.

ENGLISCH UNTERRICHTEN, IN EINER BAR ARBEITEN ODER FREMDENFÜHRER WERDEN

Beinahe jeden Tag fragt jemand Taylor bei seiner Arbeit, wie er in Berlin gelandet ist. „Und das ist noch nicht mal eine spannende Geschichte“, erzählt er. „Ich kam einfach nur als Tourist hierher und fand es super.“ Er kam 2009 hier an und war beeindruckt davon, wie sichtbar und präsent Berlins außergewöhnliche Geschichte ist. Auf seiner Laufstrecke überquerte er ständig die ehemalige Grenze zwischen Ost und West und staunte über diese alltägliche Interaktion mit Orten, die den Lauf der Geschichte verändert hatten. „Was die Arbeit angeht, konnte ich kein Wort Deutsch, also war es entweder Englisch unterrichten, in einer Bar arbeiten oder Fremdenführer werden“, erklärt er. Nachdem er von mehreren Touristikunternehmen Absagen erhalten hatte, landete Taylor schließlich beim Biereinschenken in einem irischen Pub. Nach einem langen, kalten Winter war er kurz davor, alles hinzuschmeißen und sich in Großbritannien nach einem „richtigen Job“ umzusehen, als ihm endlich doch noch ein Job als Stadtführer angeboten wurde.

Stadtführer Taylor mit einer Gruppe auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt. Stadtführer Taylor mit einer Gruppe auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt. | © Sophie Banks Heute ist Taylor dankbar, dass das Unternehmen das Risiko einging, ihn trotz seines fehlenden historischen Wissens anzuheuern. „Wenn man ausgebildet ist, einen Abschluss in Geschichte hat, so was in der Art, dann kann man bei einem der angeseheneren Unternehmen auf Anhieb einen Job bekommen. [Dieses Unternehmen] dagegen stellte Leute ein, die zwar vielleicht das Potenzial hatten, aber woanders keinen Job bekommen hätten“, erklärt er. Taylor wurde höchstwahrscheinlich aufgrund seiner Erfahrung im Bereich Darstellende Kunst angeheuert (er hat einen Abschluss in Film und Theater), immerhin ist die Fähigkeit, eine Gruppe bei der Stange zu halten, nicht weniger wichtig als das Vermitteln historischer Fakten. Er schätzt, dass mindestens die Hälfte seiner derzeitigen englischsprachigen Fremdenführerkollegen sich entweder als Schauspieler oder als Dramatiker versucht haben. „Wenn man an Geschichte interessiert ist, aus einer Karriere als professioneller Schauspieler aber nichts wird, ist das hier ein ziemlich guter Plan B“, erklärt er.

BERLINER FEUERTAUFE

Merren hatte schon lange mit Berlin geliebäugelt. Sie und ihr deutsch-australischer Ehemann Chris haben das Glück, im Besitz von EU-Pässen zu sein, und waren erpicht darauf, Berlin zu ihrer Basis für die Erkundung Europas zu machen. Merrens Großeltern wanderten in den 1950er Jahren aus Reutlingen nach Australien aus und ihre Mutter wuchs zweisprachig auf, sodass Merren von Kindesbeinen an mit deutscher Küche, Kultur und Sprache vertraut war.

Merren mit einer Tourgruppe am Brandenburger Tor. Merren mit einer Tourgruppe am Brandenburger Tor. | © Merren McClean Trotz ihres deutschen Hintergrunds war Merrens Deutsch „mehr oder weniger nicht vorhanden“, als sie 2013 hier ankam, und so hangelte sie sich durch eine ganze Reihe von Jobs. „Ich machte die komplette Berliner Feuertaufe mit, vom Arbeiten für ein Start-up bis hin zum Arbeiten für einen [zweisprachigen] Kindergarten war alles dabei. Wie das so läuft, man fischt im Trüben, sucht sich Jobs, wo man nur kann“, erinnert sie sich. Merren ist unglaublich leutselig und „immer für ein Bier gut“, sodass leicht zu verstehen ist, warum sie ihren Einstieg in den Tourismus als die beste Zufalls-Karriereentscheidung beschreibt, die sie je getroffen hat. Genau wie Taylor verfügte sie bereits über den „Unterhaltungsfaktor“ und musste daher nur ihr geschichtliches Wissen ausbauen, indem sie Museen besuchte, las und an den Touren anderer Fremdenführer teilnahm. Sie scheint die optimale Balance zwischen Fakten und Unterhaltung gefunden zu haben: „Auf einer Tour vor ein paar Jahren bezeichnete mich ein Teilnehmer als Infotainerin ... Ich weiß immer noch nicht, ob ich mich jetzt geschmeichelt fühlen soll oder nicht“, lacht sie. Heutzutage spricht sie fließend Deutsch und managt zusätzlich andere Fremdenführer.

KEIN MANGEL AN TOURISTEN

Trotz ihrer ganz unterschiedlichen Werdegänge und Motivationen haben die beiden Stadtführer den Wunsch gemeinsam, in Berlin zu bleiben und ihre berufliche Zufallslaufbahn weiterzuverfolgen. Sie empfinden ihre Arbeit als kurzweilig und erfüllend, sprachen jedoch auch beide von der Möglichkeit, sich eines Tages „einen richtigen Job zu suchen“. „Wenn ich nach Melbourne zurückgehen sollte“, sagt Merren, „hätte ich womöglich das Gefühl, ich sollte ins richtige Leben samt beruflicher Weiterentwicklung zurückkehren.“ Taylor ist da in Bezug auf seinen Wunsch, in Europa zu bleiben, schon kompromissloser. Wenn er je wieder in Australien landen sollte, sagt er, würde er ein anderes Berufsfeld einschlagen, und suggeriert, dass Australiens Geschichte gegenüber den weltverändernden Ereignissen, die in Berlin stattfanden, verblasst: „Auf gar keinen Fall würde ich in Australien als Fremdenführer Stadtrundgänge machen. Was soll ich da schon erzählen?“

Berlins Tourismusboom geht ungebremst weiter. Spiegel Online zufolge ist Berlin mittlerweile das drittbeliebteste europäische Reiseziel, was Übernachtungen angeht, und die Anzahl der Passagiere, die am Flughafen Schönefeld ankommen, hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Wenn sie sich also zum Bleiben entschließen sollten, wird Merren und Taylor mit Sicherheit nicht die Arbeit ausgehen.