Bangladesch
NIDARUN SHOB, Zusammengetragen von NAEEM MOHAIEMEN

Die Idee des „nidarun shob“ (Cadavre Exquis) geht auf eine surrealistische Zeichenmethode zurück, bei der jede*r Teilnehmer*in einen anderen Teil eines Bildes zeichnet, um anschließend alle Teile zu einer Montage zusammenzufügen. Mohaiemen bat 22 Menschen aus Dhaka, jeweils drei Sätze zu schreiben, die am Anfang ihrer Überlegungen zur Welt nach Covid-19 stehen. Die Antworten wurden in einem fortlaufenden Text zusammengefasst, der jedoch keine kollektive Antwort, sondern vielmehr eine ungeschliffene Stimmenvielfalt bietet. Die fehlende Synchronizität von Hoffnungen und Ängsten spiegelt unser heutiges Leben wider.

Von Naeem Mohaiemen

Dhaka Voices
Foto: Naeem Mohaiemen; Banner entworfen von Mahmud Zoarder für Che Solidarity.
In dieser erzwungenen Pause vom „normalen Alltag“ drängt sich mir der Gedanke auf, dass die gesamte Welt dazu verpflichtet werden sollte, alljährlich eine einmonatige Pause einzulegen. Eine bezahlte Pause im Jahr, um zu Hause zu bleiben und uns an unsere Verletzlichkeit als schwache Spezies zu erinnern. Um wieder an unsere menschlichen Werte und zwischenmenschlichen Beziehungen anzuknüpfen, der Natur Gelegenheit zur Regeneration zu geben und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Und vor allem um den Menschen Zeit zu verschaffen, ihre Prioritäten im Leben in einem transformativen Prozess neu zu ordnen. [Marina Tabassum] Wir, die Ureinwohner*innen in aller Welt, äußern diese Bedenken schon seit langem. Nun konnten wir zu Lebzeiten die Erfahrung machen, dass sich die Mächtigen ungeachtet aller Machtgefüge auf unsere Ebene begeben haben. Ihre so genannte Macht hat ihnen nicht so viel geholfen, wie sie es sich gewünscht hätten. Wir träumen: „Vielleicht wird dies“ sie lehren, warum Gleichberechtigung und Gleichstellung und Gerechtigkeit so wichtig sind. Wir hoffen aus ganzem Herzen: „Vielleicht wird dies“ die Welt „in Ordnung bringen“. „Entwicklung“ bedeutet zu lernen, respektvoll mit der Natur umzugehen. [Muktasree Sathi Chakma, Forscherin] Bangladesch darf den Grundsatz der Ernährungssouveränität, der an das wirtschaftliche und biologische Überleben des Landes geknüpft ist, nicht aufs Spiel setzen. Die Förderung der Marktbeteiligung von Landwirten ist ein positiver Schritt, wenn damit Anreize für die Lebensmittelproduktion verbunden sind und das Land keine Lebensmittelimporte benötigt. Die starke Abhängigkeit von einer externen Versorgung mit Düngemitteln, Pestiziden, Bewässerungssystemen und anderen technischen und chemischen Mitteln, kontrolliert durch multinationale Konzerne, muss dringend überwunden werden. Landwirte ernähren die Menschen, nicht die Unternehmen. [Farida Akhter, Öko-Feministin] Bei der Reaktion auf den Ausbruch von Covid-19 stand vor allem die Figur der „Rückkehrer aus dem Ausland“ (bidesh ferot) im Mittelpunkt. Diese eigentlich mit Prestige und Respekt versehene Gruppe ist nun mit dem größten aller Stigmen belastet, die Infektion in Zeiten der Apokalypse ins Land gebracht zu haben. Wanderarbeiter*innen sind damit zu unheimlichen Figuren geworden, zugleich Vertraute und Fremde, obwohl Letztere zurzeit nicht einmal die dringend benötigte Versorgung mit Bargeld und Waren übernehmen. Gerüchte und Berichte vom Hörensagen über Ansteckungen und kollektive Gewalt gegen Migrant*innen sind Teil einer neuen Form der biopolitischen Herrschaft. [Nusrat Sabina Chowdhury, Wissenschaftlerin] Mit dem Ausbruch des Coronavirus fielen auch Schlaglichter auf die zerrütteten Gesellschaftssysteme in aller Welt, und wir wurden immerfort an die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, gefährliche Grenzüberschreitungen, mangelhafte Gesundheitssysteme und wirtschaftliche Ungleichheiten erinnert. In der Kunstwelt sind vor diesem Hintergrund zwei Zukunftsprognosen denkbar: Zum einen könnte ein Aufflammen des Nationalismus zersetzende Kräfte befördern, die sich nur für einen Schutz der Ressourcen für einen Teil der Bevölkerung sowie für Kosteneinsparungen, weniger Vielfalt und virtuelle Infrastrukturen einsetzen. Zum anderen könnte die Empathie in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten zunehmen, und die Vielfalt der Ökologie der Kunst ließe sich durch konkretere und klarere Visionen schützen. [Tanzim Wahab, Kurator] Zukunftsgestaltung – eine mögliche Betrachtung besteht darin, dass sie die natürliche Umwelt auf eine mehr körperliche Weise zum Kern ihrer Existenz bringen muss und nicht umgekehrt. Wir müssen Architektur als etwas Lebendiges und nicht als Verkörperung von Liebhaberobjekten betrachten. Damit das Moos an den Fassaden die Schönheit der Gebäude betont. [Salauddin Ahmed, Architekt] Der Staat gemäß Max Weber wird mit aller Macht als Kontrollinstanz des weltweiten privatwirtschaftlichen Kapitals wiederkehren. Was die freien Märkte nicht selbst für sich ausrichten konnten, wird der neue Staat schneller, umfassender und schonungsloser umsetzen – im Namen des Volkes. Im Spannungsfeld zwischen einem suboptimalen Modell der Sozialdemokratie, einem hybriden Regime und einem autoritären Kapitalismus wird das Streben nach Kontrolle das Handeln bestimmen. [Mahfuz Sadique, Journalist] Obwohl die Arbeit im „Home-Office“ als „Standard“ voraussetzt, ein Zuhause und einen Arbeitsplatz zu haben, bleibt zu hoffen, dass dadurch auch die Grenzen zwischen beiden aufgelöst wurden, die uns dazu bewegen, das Konzept der männlichen „Arbeitswelt“ im Gegensatz zum weiblichen „Zuhause“ auf den Prüfstand zu stellen, um auch nicht-männliche Fähigkeiten und Situationen berücksichtigen zu können. Eine solche Flexibilität ist eines der Lichter am Ende des Tunnels auf dem Weg in eine integrativere Gesellschaft, die sich vornehmlich auf Empathie und eine nachhaltige Koexistenz mit der Natur stützt. [Nasrin Khandoker, Wissenschaftlerin] Wenn ich mir eine positive Zukunft nach Covid-19 vorstelle, dann würde ich mich freuen, wenn ein besseres Gesundheitssystem aufgebaut wird, die während der Krise angestiegene häusliche Gewalt wieder abnimmt und Menschenrechte, auch die von Tagelöhner*innen und Arbeiter*innen, grundsätzlich durchgesetzt und geachtet werden. Schließlich wird durch strenge staatliche Maßnahmen gewährleistet, dass Natur und Klima geschützt werden und sich erholen können. [Ruhi Naz, Forscherin] Eine Zeit nach der Pandemie wird es nicht geben, wenn wir uns nicht ausführlich mit einigen der grundlegenden Probleme auseinandersetzen, die nun zutage treten: a) Respekt vor der Natur und Einsicht in unserer Koexistenz; b) die Erkenntnis, dass die Gesundheitsversorgung die eigentlich wichtige Infrastruktur ist, nicht Arbeitskräfte oder Wirtschaft oder Beschäftigung; c) vor allem müssen die zwei Grundsätze in politische Maßnahmen (auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene), politische Strategien (Staat, Freizügigkeit, Mittelzuweisung) und Verhaltensweisen (Sozialverhalten, Diplomatie) übertragen werden. [Meghna Guhathakurta, Forscherin] Als Bürger*innen während des Lockdown ihre eigenen Plattformen dafür nutzten, Nachrichten zusammenzutragen und andere Menschen über soziale Netzwerke und persönliche Blogs zu informieren, wurde eine Welle losgetreten. In Bangladesch haben sich Live-Diskussionsrunden zu soziopolitischen Themen auf Plattformen wie Eventbrite, Zoom und Upstream zusammen mit dem schon etablierten YouTube-Kanal zur Verbreitung von Nachrichten und Meinungen durchgesetzt. [Kazi Jesin, Jounalistin] Meiner Ansicht nach wird uns die aktuelle Situation im Zusammenhang mit Covid-19 dazu bewegen, die Lage der Menschenrechte in den Blick zu nehmen und zu verbessern. Der künftige Kampf für die Menschenrechte hat keinerlei Bedeutung, wenn er nicht auch die Vision einer postimperialen und postkapitalistischen Welt berücksichtigt, um Bedingungen zu schaffen, in denen die universale Menschlichkeit zur weltweiten Realität wird. [Rezaur Rahman Lenin, Forscher] Diese Krankheit, die von vielen als „große Gleichmacherin“ bezeichnet wurde, kann im Grunde mit einer Leiter mit unterschiedlich anspruchsvollen Stufen verglichen werden, auf der jede*r von uns erkennen kann, wie viel das eigene Leben tatsächlich wert ist. Wir korrigieren regelmäßig unsere Position und halten uns immer in der Nähe unserer jeweiligen Stufe auf, während wir uns fragen: Bekomme ich ein Beatmungsgerät, wenn mein Leben in Gefahr ist? [Nadine Shaanta Murshid, Wissenschaftlerin] In der Welt nach Corona werden wir mit einer neuen Realität konfrontiert. Ich stelle mir vor, dass die Kunst dunkler sein wird und die Themen Tod, Hysterie, Paranoia und Isolation in künftigen Werken mehr Raum einnehmen werden. Möglicherweise wird die Welt Zeuge eines Wiederauflebens der dadaistischen Avantgarde, die das Entwicklungsdiktat einer totalitär geprägten Welt ablehnt. [Salma Abedin Prithi, Künstlerin] In der aktuellen Situation kann ich nicht optimistisch auf die Zukunft von Bangladesch blicken. Wenn Menschen Reis von den Armen stehlen und die Kluft zwischen den Begüterten und den Habenichtsen schon jetzt enorm ist, dann befürchte ich, dass wir, sollten wir jemals diese Geißel hinter uns lassen, wieder in die „Normalität“ zurückfallen und erneut in das „Entwicklungsparadigma“ abgleiten werden. [Perween Hasan, Wissenschaftlerin] Nach „Corona“ wird es in der Kunstwelt zu massiven Veränderungen kommen, die unmittelbar in den Werken zu sehen sein werden. Die Künstler*innen werden aus dem White Cube heraustreten und sich vermehrt mit minimalistischen Materialien und Praktiken auseinandersetzen. [Promotesh Das Pulak, Künstler] Mit der bereits sichtbaren umfassenden Neuordnung der menschlichen Lebensumstände ist das bisher Unmögliche innerhalb kürzester Zeit zur Normalität geworden. Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung und der sozialen Sicherheit, kann angesichts des zunehmenden Widerstands nicht in dieser Form bestehen bleiben. [Sayema Khatun, Wissenschaftlerin] Die Krise wird für die Menschen neben finanziellen auch mit körperlichen Folgen verbunden sein. Sie hat die Menschen dazu gezwungen, innezuhalten, zu Hause zu bleiben. Wir wurden dazu bewegt, unsere Beziehungen zu Pflanzen, Tieren, der Erde und allen lebenden und nicht-lebenden Wesen auf den Prüfstand zu stellen. [Munem Wasif, Künstler] Meines Erachtens wird es in unseren weltweiten Bildungssystemen große Veränderungen geben. Sie werden praktischer und naturnaher gestaltet. Uns wird vermittelt, dass der Mensch kein höheres Wesen ist, sondern ein Geschöpf wie alle anderen Arten in dieser Welt. Und für diese Neugestaltung der Bildungssysteme müssen wir uns einsetzen. [Bithi Ghosh, Kulturaktivistin] Die meisten Menschen im informellen Sektor werden diese Demonstrationen mit Schweigen quittieren und völlig ignorieren. Wer könnte diese Teile der Bevölkerung von der Existenz einer tödlichen Epidemie überzeugen? Für mich steht Covid-19 für die Frage der Klasse und einen Mangel an Führungsqualität. [Reetu Sattar, Künstlerin] Alle Prognosen hängen davon ab, wie sich die Krankheit entwickelt und ob die Länder und die Weltordnung darauf mit einer umfassenden Bereitstellung von Heilmethoden/Impfstoffen reagieren. Vielleicht ziehen sie es auch vor, die alten, armen Menschen, die keine Stimme haben, zu ignorieren und sterben zu lassen, um so die Bevölkerungszahlen zu senken? Wenn all dies vorüber ist, wird mehr Vogelgesang zu hören sein und die Tierwelt wird zusätzlichen Raum einnehmen – bis die Flugzeuge wieder in den Himmel steigen und die Autos erneut ihre widerlichen Abgase in die Luft pusten. [Farida C Khan, Wissenschaftlerin] Nachdem ich einen Bericht darüber gelesen hatte, dass eine Tuberkulose-Impfung mit dem Impfstoff „BCG tika“ niedrigere Covid-19-Raten zur Folge haben könnte, suchte ich instinktiv an meiner Schulter nach der vertrauten kreisrunden Erhöhung, an die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht hatte. Einige Stunden später rief mich ein Freund an, um mir zu erzählen, dass andere Berichte diese These widerlegt hätten. Wir hatten also doch keine Superkräfte. Die Notwendigkeit, uns in der Wissenschaft auf unbekanntes Terrain und damit in einen Sturm aus These und Antithese zu begeben, bestimmt unsere Art zu leben, zu diskutieren und zu entscheiden. [Naeem Mohaiemen, Filmemacher] Mit der Pandemie hat sich einmal mehr gezeigt, in welch gefährliche Unsicherheit die Menschheit in der aktuellen aggressiven und ausbeuterischen Weltordnung geraten war. Vor dem Hintergrund einer anhaltenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeit überrascht es nicht, dass die ärmsten Menschen am meisten von der Corona-Krise betroffen sind. Im Angesicht der Furcht vor einer verstärkten Überwachung und autoritären Herrschaft erscheint ein Kampf für eine demokratische und menschenwürdige Welt unvermeidbar. [Zonayed Saki, Politiker]

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