Underground-Literatur
Schreiben ohne Zwang

Arne Schmelzers Literaturautomat;
Arne Schmelzers Literaturautomat; | Foto (Ausschnitt): © Anna Niestroj

Autoren schreiben, um gelesen zu werden. Doch nicht jeder Schriftsteller möchte konventionelle Wege der Vermarktung gehen.

In der bildenden Kunst sind es die sogenannten „Off-Spaces“ oder „Off-Galerien“, die Kunstschaffenden alternative Möglichkeiten bieten, ihre Werke zu zeigen. Unabhängigkeit ist für viele Künstler ein hohes Gut – das gilt auch in der Literatur. Manchem Autor ist es sogar wichtig, sich kommerziellen und gesellschaftlichen Zwängen ganz zu entziehen. Häufig spricht man dann von „Underground-Literatur“. Doch was genau macht diese Form der Literatur aus – und wo ist sie in Deutschland heute zu finden?

„Underground ist das Gegenkonzept zur Hochliteratur“, sagt Roman Israel. Der Schriftsteller ist Initiator einiger Lesebühnen in Leipzig und Dresden – regelmäßiger Treffen, bei denen meist junge, unbekannte Autoren neue Werke vortragen. Solche Lesebühnen bilden einen Teil jener Szene, die man gemeinhin „Underground“ nennt. Außerdem gehören dazu bestimmte Verlage, ungewöhnliche literarische Formate wie Poetry Slams und „Fanzines“: unabhängige Literaturmagazine. „Underground ist noch nicht etablierte Literatur“, sagt Roman Israel. „Es ist Literatur, die keinen großen Wert auf Konventionen legt. Da spielen Kneipen eine Rolle – und viel Rauch.“

Plattform für oppositionelle Journalisten in der DDR

Modelle zur unabhängigen Herausgeberschaft waren für die Literatur immer von zentraler Bedeutung. Die Beteiligten agierten oftmals im Verborgenen und entgingen so einer möglichen staatlichen Zensur. Vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten der 1950er- bis 1980er-Jahre boten selbstgestaltete Bücher und teils von Hand kopierte Texte die einzige Möglichkeit, nonkonformistische Literatur zu lesen und zu verbreiten. Solche Texte wurden mit dem russischen Begriff „Samisdat“ beschrieben, was so viel wie „Selbstverlag“ bedeutet. Sie galten als Inbegriff unzensierter Literatur. „Man schreibt selbst, redigiert selbst, zensiert selbst, verteilt selbst und geht dafür selbst in den Knast“, formulierte einmal der Publizist und ehemalige sowjetische Dissident Wladimir Bukowski. Neben Foren für literarische Texte waren die Samisdat-Blätter und -Zeitschriften, allen voran der Berliner telegraph, auch eine wichtige Plattform für oppositionelle Journalisten in der DDR.

In der Bundesrepublik führten derweil Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder Jörg Fauser – inspiriert durch die Beat-Literatur Nordamerikas – die Schwere des Alltags, den Frust und die Enttäuschung der unteren sozialen Schichten in den Kanon der westdeutschen Literatur ein. Von Kritikern wurden sie deshalb häufig als „literarischer Untergrund“ bezeichnet. Bis Anfang der 1990er-Jahre bildete sich in Westdeutschland eine eigenständige Szene heraus, die sich unter dem Begriff „Social Beat“ zusammenfand. Zumindest einzelne Elemente dieser Bewegung finden sich bis heute. „Im Unterschied zum Social Beat hat der Poetry Slam als literarische Subkultur überlebt, ist aber längst kein Underground mehr“, sagt der tschechisch-deutsche Schriftsteller Jaromir Konecny, einer der Pioniere des deutschsprachigen Poetry Slams.

Solche Dichterwettbewerbe gibt es mittlerweile in nahezu jeder deutschen Stadt und das Interesse an den Auftritten scheint nicht abzunehmen. Das liegt vielleicht auch daran, dass humoristische Texte die sozialkritischen und politischen Themen in den Hintergrund gedrängt haben. Die Bandbreite deutschsprachiger Literatur werde immer größer, sagt Arne Hirsemann, Musiker, Schriftsteller und derzeit Stadtschreiber in Heiligenstadt in Thüringen. „Spätestens seit der digitalen Vernetzung gibt es immer vielfältigere Formen und Spielarten der Literatur.“ Weil diese im Netz aber durchaus eine starke Sichtbarkeit haben, könne sich eine eigenständige Underground-Szene, unbeachtet vom Mainstream, kaum mehr entwickeln. Gegenwärtig scheint „Underground“ nur noch als Etikett zu funktionieren, das Schreibenden und ihren Texten zugewiesen wird – aufgrund eines bestimmten Milieus, in dem sie leben oder über das sie schreiben.

Ablehnung der ISBN als Sinnbild der Kommerzialisierung

Doch Projekte, die in Richtung „Underground“ weisen, gibt es durchaus. Als ein solches alternatives Modell versteht sich der Hochroth-Verlag: Er produziert seine Bücher in einer flexiblen Auflage selbst und verkauft sie über den Direktvertrieb. Seit 2008 entstand durch die Verteilung auf mehrere Standorte – unter anderem Berlin, Budapest, Paris, Riga und Wien – ein europaweites Netzwerk für unabhängig publizierte Literatur. Darüber hinaus gibt es kleine Verlage wie „Parasitenpresse“ in Köln, die sich weigern, ihre Publikationen mit einer Internationalen Standard-Buchnummer (ISBN) zu versehen. Mit der Ablehnung dieser weltweit gültigen Identifikationsnummer entziehen sie sich dem konventionellen Buchmarkt, werden aber in der literarischen Szene durchaus wahrgenommen und beachtet.

Und auch das Projekt von Arne Schmelzer ist – je nach Definition – vielleicht „Underground“: Der Autor zog während der Leipziger Buchmesse 2016 mit einem umgebauten Kaugummiautomaten durch die Messehallen und am Abend durch die Kneipen der Stadt. Statt Kaugummi gab es Literarisches: kurze Texte, die zum Nachdenken anregen. Seine Werke im eigenen Verlag herauszugeben, wahre seine Unabhängigkeit als Autor, sagt Schmelzer – auch wenn es bedeutet, dass er vom Schreiben nicht leben kann. Der Begriff „Underground“ in Bezug auf Literatur klingt in seinen Ohren allerdings eher romantisch bis kitschig. Jedenfalls nach vergangener Zeit.