Über das Denkmal und die Bilder der Vergangenheit

Standpunkt: Über das Denkmal und die Bilder der Vergangenheit

Save the Monument, save1300.com
„Die Verantwortungslosigkeit in Bezug auf das Erbe ist auch ein klares Symptom für die Versuche der gewaltsamen Durchsetzung eines eindeutigen historischen Gedächtnisses und der Entkräftung von Gedächtnisvielfalt und –diversität." - Eine Stellungnahme des Philosophen Dimitar Bojkov


Aus verschiedenen Gründen bleibt die Vergangenheitsbewältigung in Bulgarien ein ungelöstes Problem, das mit politischen, ästhetischen, sozialen und kulturellen Fragen im Zusammenhang steht. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist der Fall des Denkmals „1300 Jahre Bulgarien“, das im Jahre 1981 im Rahmen der Aktivitäten anlässlich des 1300. Jahrestages des bulgarischen Staates errichtet wurde. Bildhauer und Autor der Komposition ist Prof. Valentin Starčev, die Architekten sind Načo Agura und Aleksandar Barov.
 
Das Denkmal „1300 Jahre Bulgarien“ ist eine symbolische Darstellung Bulgariens in Form von drei Skulpturkompositionen und drei monumentalen Architekturblöcken, die den Sinn der Geschichte als Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auffassen. Die drei Kompositionen stellen „Zar Simeon und die Schriftsteller“, die „Pieta“ und den „Erbauer“ dar. Die erste Komposition verkörpert den geistigen Aufschwung des Landes und die große Bedeutung des Schrifttums in der bulgarischen Geschichte, nicht nur als immanenten Teil der Vergangenheit, sondern auch als Zukunftsorientierung. Die zweite Komposition, die Pieta, ist all denjenigen gewidmet, die während der 1300-jährigen Geschichte für Bulgarien gefallen sind. Bemerkenswert sind die plastische Darstellung des Leides durch die Konturen der Figur und der emporgerichtete Blick, in dem Tod und Erschütterung zum Ausdruck kommen. Die dritte Figur ist ein Symbol für den Arbeiter und Erbauer mit Blick in die Zukunft, die Arme sind betont kräftig und stark dargestellt.


Ivan Kepenarov, privates Fotoarchiv Valentin Starchev Ivan Kepenarov, privates Fotoarchiv Valentin Starchev Somit bleibt dieses Denkmal von außerordentlicher Bedeutung für uns, es verkörpert die Idee einer Nation, die über die Grenzen des aggressiven und seit kurzem wieder modern gewordenen Ethnozentrismus hinausgeht. Das Gemeinsame und Verbindende ist somit nicht Aggression und Selbstzufriedenheit, sondern Leid und schöpferischer Aufbau.
 
Nach den politischen Veränderungen 1989 blieb das Denkmal dem Verfall überlassen, nicht die geringsten der erforderlichen technischen Maßnahmen wurden getroffen, um das Denkmal instand zu halten.
 
Angesichts seines Zustandes setzten 2008 lebhafte Diskussionen über das Schicksal des Denkmals ein, die jedoch Teil einer größeren Debatte darstellen, der Debatte über die Neubewertung der sozialistischen Epoche, der Kunstdenkmäler jener Zeit, über die Kultur der visuellen Darstellung in der jüngsten Vergangenheit und den alltäglichen Umgang mit dieser Kultur.
 
Die Situation der Debatte um das Denkmal „1300 Jahre Bulgarien“ ist jedoch anderer Art, obwohl auch Gemeinsamkeiten bestehen. Diese Debatte ist auch in einen anderen Kontext eingebettet. Nach dem Pathos der 1990er Jahre schien die Unversöhnlichkeit zwischen den Linken und den Rechten in den Hintergrund zu treten zugunsten eines gemeinsamen Drangs nach Profit und nach europäischen Werten. Für eine gewisse Zeit wirkten die Bilder der Vergangenheit nicht so auffällig beunruhigend auf die Öffentlichkeit. Mit der Regierung von Bojko Borisov begann das Zeitalter der Styropor-Sanierung und der Erfindung von pseudo-altertümlichen Festungsattrappen. Die Phantasie der Bilder (nach Benjamin) wandelte sich zu archaisierenden und patriotischen Konsensmustern, die von Restauratoren und Experten keine speziellen Fertigkeiten und Kenntnisse erfordern, sondern nur die Anschaffung von Eurofonds und Fähigkeiten zum Schneiden von Gipskartonplatten und Ytong verlangen. Diese Einstellung zum Kulturerbe verdrängte die Notwendigkeit einer sinnvollen Debatte über die jüngste Vergangenheit sowie vertiefter kunstgeschichtlicher Kenntnisse, mit deren Hilfe das vorliegende Kulturerbe adäquat zu bewerten und zu erhalten wäre.


Lilly Petkova, save1300.com Lilly Petkova, save1300.com Im Unterschied zu den 1990er Jahren und dem Anfang des neuen Jahrtausends schuf die Wirtschaftskrise von 2008 (in Bulgarien etwas später spürbar geworden) neue politische Einstellungen, linke politische Diskurse wurden neu belebt und verstärkt, der bestehende Konsens wurde in Frage gestellt, der rechte Pathos der 1990er Jahre wurde nur von kleinen Gruppen geteilt. In Mode und Design setzte sich der Vintage Style durch, der eine Replik der 1960er und 1970er Jahre war (Gemiševa 2015) und der die Bedeutung der Vorkriegszeit sowie das starke Interesse für sie zu verdrängen schien. Diese westlichen Einflüsse bewirkten in Bulgarien ein erhöhtes Interesse für die Bildkultur des Sozialismus, eine Neuaufwertung in bestimmten Codes und die Erzeugung eines anderen, alternativen Gedächtnisses für die Vergangenheit durch die neuen Möglichkeiten, die Internet und die Digitaltechnologien eröffneten (in Bezug auf das Digitalgedächtnis über das Denkmal auf dem Berg Buzludža vgl. Georgieva: 2013).
 
Auch der Gemeinderat Sofia scheint keinen offiziellen Standpunkt bezüglich der Vergangenheit beziehen zu wollen, er wäscht sich die Hände in Unschuld mit der Betonung konstruktiver Probleme des Denkmals und der angeblichen Unmöglichkeit seiner Renovierung. In gewissem Sinne vermeiden beide Seiten in der Debatte das Ideologische und suchen nach Argumenten anderer Art. Zum Beispiel die Wiedererrichtung der Gedenkplatten für das 1. und das 6. Infanterieregiment, die in der Nähe des jetzigen Denkmals standen, die bei den Bombenangriffen über Sofia im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört und beim Bau des Nationalen Kulturpalastes beseitigt wurden. Dies ist wieder einmal ein Versuch der Rückkehr zu einer problemfreien und heldenhaften Vergangenheit, die quasi mit einem Zauberstab die Probleme der Gegenwart zu lösen versucht (Dičev 2017), selbstverständlich  reichlich geschmückt mit neoklassizistischen Säulen, absolut unvereinbar mit der modernistischen Architekturumgebung des Nationalen Kulturpalastes. Es ist offensichtlich, dass die Machhabenden in Bulgarien den Modernismus immer noch nicht als erhaltungswürdiges Kulturerbe anerkannt haben, ebenso wenig als Grundlage für die Entwicklung von stabilen Urbanisierungspolitiken sowie zum Verständnis seiner historischen Bedeutung.

Nikolai Belalov, save1300.com Nikolai Belalov, save1300.com Die Argumente der Denkmalgegner betreffen die Konstruktion (z.B. die des Gemeinderates Sofia), ideologische Probleme (bei manchen Politikern), ästhetische Aspekte (bei manchen Bürgern, die jedoch häufig einen politischen Beigeschmack aufweisen) und Aspekte, die mit dem Vergangenheitsgedächtnis zusammenhängen. Die Befürworter des Denkmals betonen seine künstlerischen Qualitäten und seinen natürlichen Bezug zum ganzen Bauwerkensemble  des Nationalen Kulturpalastes sowie die Tatsache, dass es sich  in diesem Falle um ein Denkmal für Bulgarien handelt und somit jede Politisierung unangebracht sei. Bemerkenswerterweise gehören zu den Befürwortern Menschen mit verschiedenen politischen Einstellungen, die von der Wichtigkeit der Bewahrung des Denkmals überzeugt sind.
 
Ich habe mir erlaubt, einige der Voraussetzungen in der Debatte um das Schicksal des Denkmals „1300 Jahre Bulgarien“ zu umreißen, damit die Wahnsinn, ihn abreißen zu wollen, sichtbar wird, ein Wahnsinn, der das Unverständnis sowohl für Kunst in urbaner Umgebung als auch für die Bedeutung der Vergangenheit widerspiegelt. Die Verantwortungslosigkeit in Bezug auf das Erbe ist auch ein klares Symptom für Versuche, ein eindimensionales historisches Erinnern durchzusetzen und eine Vielfalt von Erinnerungen und Deutungsmöglichkeiten zu unterbinden. Wenn nach Jacob Taubes das Gedächtnis das „Organ der Geschichte“ ist (Taubes 2009), so kastrieren wir unsere Geschichte durch das absichtliche Vergessen. Wir  zerstören sie, so dass sie durch unbeabsichtigte Kraftlosigkeit in den Fanatismus einer Attrappen-Größe gerät.
 
(deutsche Version redaktionell gekürzt)


Genutzte Literatur:
Georgieva 2013 = Георгиева, Валентина, Бузлуджа онлайн или дигиталната памет за социализма, в Seminar.bg, 2013.
Gemiševa 2015 = Гемишева, Мариела, Време и стил, София: 2015. 
Dičev 2017 = Дичев, Ивайло, В памет на паметника 1300 годни България, в Оffnews, 2017.
Taubes, Jacob, Eschatologie occidentale, Paris: 2009.



*** Das Goethe-Institut Bulgarien hat diesen Artikel beim Autor in Auftrag gegeben. Das bedeutet nicht, dass der Text die Meinung des Goethe-Instituts widergibt,  ist das alleinige und unabhängige Werk des Autors. Das Goethe-Institut lädt auch andere Autoren dazu ein, zu dem Denkmal Stellung zu beziehen. Wenn Sie eine Stellungnahme schreiben wollen, melden Sie sich bei uns unter stefka.tsaneva@goethe.de. ***
 
Dimitar Bojkov ist Philosoph und Dozent für zeitgenössische Philosophie und Philosophie des 19. Jahrhunderts an der Sofia Universität „St. Kliment Ohridski“. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen der kritischen Theorie, der Geschichte der zeitgenössischen Kunst und der Geschichtsphilosophie. Er arbeitet in Forschungsprojekten, die sich mir der Rolle der Kunst im urbanen Raum und mit der Ideengeschichte auseinandersetzen.

Übersetzung: Ana Dimova
Goethe-Institut Bulgarien
Links zum Thema