Vom Distanz- zum Projektlernen

Vom Distanz- zum Projektlernen © © Goethe-Institut Vom Distanz- zum Projektlernen © Goethe-Institut

von Yvonne Bansmann und Martin Fugmann


„Präsenzunterricht, Distanzlernen, Homeschooling, Schule @Home, hybrides Lernen, Notbetreuung …“ – diese Begriffe umschreiben Organisationsformen, die anlässlich der (partiellen) Schulschließungen während der Pandemie dafür sorgten, unseren Kindern Lernen außerhalb des Raumes Schule weiterhin zu ermöglichen. Dort, wo es bereits digitale Infrastruktur und digital gestützte Unterrichtspraxis gab, konnte nicht nur die Beziehung zu den Lernenden aufrechterhalten werden, sondern – wenn auch mit großen Einschränkungen – auch außerhalb der Schule gelernt werden. 

Im öffentlichen Diskurs wird auf der Basis der oben genannten Studien auf dramatische Lernrückstände hingewiesen:  Die curricularen Anforderungen in den Kernkompetenzen Rechnen, Schreiben, Lesen und allen anderen fachlichen Disziplinen mussten pandemiebedingt an die neue Realität des Lernens auf Distanz angepasst werden. Ebenfalls evident sind die Rückstände in den sozialen Kompetenzen und Effekte psychischer Belastungen, die sich durch die Vereinsamung hinter den häuslichen Bildschirmen oder bei der Abarbeitung von Arbeitsplänen auftun. Auch wenn es dazu keine systematische Erhebung gibt, ist davon auszugehen, dass Schüler*innen während der Pandemie, sofern die Lehrkräfte auf reflektierte digitale Medienkonzepte zurückgreifen konnten, in Bezug auf Kompetenzen wie interaktive Anwendung von Technologien; digitale Anwendungskompetenz; Umgang mit Informationen, Medien und Technologien; Initiative und Selbststeuerung; Produktivität und Verantwortlichkeit; Flexibilität sowie Anpassungsfähigkeit vielleicht mehr Fortschritte erzielt haben als in der Traditionsschule, die vor Corona auf synchrone Präsenzlehre setzte. 

Wenn wir die Ergebnisse aus der Krise nutzen wollen, sollten wir den Blick auf einen umfassenderen Erwerb auch überfachlicher Kompetenzen richten und uns die Frage stellen, mit welchen Unterrichts- und Lernsettings es gelingen kann, neben den reinen Fachkompetenzen eben auch die oben genannten überfachlichen Kompetenzen anzubahnen. Schon zeichnet sich formal das längst bekannte Konzept des Blended Learning als das Lernarrangement der Zukunft ab, in dem der herkömmliche Präsenzunterricht mit E‑Learning gekoppelt wird. 

Personalisierung des Lernens und Blended Learning

Die Phase des digital gestützten Distanzlernens hat trotz aller Einschränkungen gezeigt, welches pädagogische Potenzial digitale Systeme entfalten können, wenn man sie in asynchronen Unterrichtssettings so orchestriert, dass Lernen zunehmend personalisiert geschehen kann. So konnte beobachtet werden, dass starre Strukturen des Unterrichts wie das Lerntempo, der Lernort, die alleinige Steuerung durch die Lehrkraft, das Dominieren eines Lernpfades für alle im Gleichschritt und sogar die Bedeutung und Sinnhaftigkeit des Beharrens auf Prüfungen in Frage gestellt werden mussten und das Digitale in Verbindung mit der erzwungenen Formveränderung von Schule den Blick für eine Neugestaltung des Unterrichts öffnete. 

Personalisierung des Lernens gelingt unter der Voraussetzung, dass die Lernkultur der Schule nicht mehr ausschließlich auf Wissenserwerb in Präsenz fokussiert, sondern einen lernpsychologisch fundierten Mix von Lehr- und Lernkonzepten anbietet, die einander ergänzen und aufeinander aufbauen: Fachunterricht (Vermittlung von Inhalten durch die Lehrkraft), Projektunterricht, selbstgesteuertes Arbeiten (zunehmend digital gestützt), Lernbegleitung und flexible Lernzeiten. 

 

Blended Learning und Projektunterricht am Evangelisch Stiftischen Gymnasium

Die Unterrichtsentwicklung am Evangelisch Stiftischen Gymnasium (ESG) verfolgt das Ziel, den Anteil des Projektlernens, die Ausbildung der vier Kompetenzen quantitativ und qualitativ zu stärken und damit dem gelenkten Frontalunterricht mit Selbstlernphasen ein personalisiertes Lernsetting an die Seite zu stellen, bei dem „Blended Learning“, das Lernen in- und außerhalb des Klassenraumes im eigenen Lerntempo mit individualisierten Lernpfaden und die Selbstwirksamkeitserfahrung im Fokus stehen. 

Projektarbeit: Die Schritte zum Produkt

  1. Der Ausgangspunkt jedes Projektes ist die Entwicklung einer tragfähigen Forscher*innenfrage, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik des Projektes gewährleistet.
  2. Die Schüler*innen formulieren dann begleitet und angeleitet von Lehrkräften ihre Lernziele und entwickeln ihre Lernprodukte selbst.
  3. Sie strukturieren ihren Lernweg mit Hilfe von sogenannten „Kanban‑Planungstools“, zunächst analog, mit zunehmender Kompetenz auch mit digitalen Tools.
  4. Um verlässliche Informationen über den Lernfortschritt der Schüler*innen erhalten zu können, werden die Kriterien im Vorfeld gemeinsam mit den Lehrkräften entwickelt, sodass die Schüler*innen lernen, ihre eigenen Lernziele zu formulieren, zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren.
Beginnend in Klasse 5 und 6 werden in drei Projektphasen pro Schuljahr die Fächergrenzen aufgebrochen und es wird multiperspektivisch an einem Jahresthema gearbeitet (zum Beispiel Umwelt, Ernährung, Nachhaltigkeit).

Der Schwerpunkt des projektorientierten Lernens liegt auf der Anbahnung überfachlicher Kompetenzen, um das co‑kreative und selbstgesteuerte Arbeiten zu fördern. Je nach Jahrgangsstufe werden die Forscher*innenfragen komplexer und die Darstellung durch digitale Produkte anspruchsvoller. Die Ergebnisse der Forscher*innenfragen werden von Anfang an in digitale Produkte umgesetzt.

Um bisweilen ermüdende Präsentationsphasen zu vermeiden, werden derzeit barcamp‑ähnliche Präsentationsformate entwickelt.

Am Ende eines solchen Projektes evaluieren die Schüler*innen die Themenstellung und die Organisation und machen Verbesserungsvorschläge für den nächsten Jahrgang.

Nach zwei Jahren Erprobung des projektorientierten Lernens lässt sich feststellen, dass die Schüler*innen ihre überfachlichen und digitalen Kompetenzen auch in den Distanzlernphasen deutlich erweitern konnten. Die Einbindung der Schüler*innen sowohl in die Planung, Durchführung als auch Evaluation, die Orientierung an den vier Kompetenzen, systematisches und regelmäßiges Feedback und die Veränderung der Lehrer*innenrolle haben Auswirkungen auch auf den traditionellen Fachunterricht und führen so zu einer spürbaren Veränderung der Lernkultur in allen Unterrichtssettings über alle Jahrgangsstufen hinweg.

Die Lernbegleitung und Beratungen fördern den nachhaltigen Lernerfolg und den damit verbundenen Wissenszuwachs, weil die Schüler*innen im Feedbackprozess unter anderem lernen, Fehler als notwendig und positiv zu bewerten. In der Distanzlernphase nutzen wir synchrone Kommunikation vor allem für Feedback und individuelle Beratung und Begleitung der Lernprozesse. Dies ist nach unserer Beobachtung der zentrale und am schwersten zu realisierende Paradigmenwechsel, denn er geht von einem Rollenwechsel der Lehrkräfte aus, der oft mit der Angst vor Kontrollverlust verbunden ist.

Die Hauptschwierigkeit für die Organisation und Etablierung der projektorientierten Lernform sind starre Stundenplanstrukturen, die perspektivisch überwunden werden müssen.

Um den Veränderungswillen im Kollegium zu stärken, hat die Schulleitung am ESG an das pädagogische Ethos der Kolleg*innen appelliert und Spielräume zur Entfaltung geschaffen – Belehrung gibt es in der Schule und in unserem System genug, daher ist es umso wichtiger, Räume der Ermöglichung zu öffnen, in denen sich die Akteur*innen sicher und vertrauensvoll begegnen können.

So wurde am ESG das Anliegen, Projektunterricht fächerübergreifend und zeitlich unbegrenzt zu realisieren, von einer Gruppe des Kollegiums mit externer Beratung und Hilfe aufgegriffen. Es gab zusätzliche Zeitkontingente, Freiräume für die Planung und Innovation und das Mandat zur Umsetzung und Erprobung. Weitere Innovationsschübe waren zum Beispiel die Entwicklung und der Einsatz neuer, zeitgemäßer Prüfungsformate, die Durchführung von Barcamps zur Prüfungsvorbereitung im Präsenz- und Distanzunterricht, neue Organisationsformen von Unterricht während Klausurphasen, die Einführung fachspezifischer Vertiefungstage und damit verbunden die Auflösung von Stundenrastern.

Schulentwicklung, die auf die oben beschriebenen Innovationsprozesse baut, kann gelingen, wenn sie von gegenseitigem Vertrauen und von Wertschätzung geprägt ist. Lehrkräfte und auch Schüler*innen- und Elternschaft sind enorm kompetent, wenn es gilt, gute Lernbedingungen mit zu entwickeln und zu reflektieren. Schule lässt sich im Dialog und Prozess mit allen am Schulleben Beteiligten entwickeln, wenn die Richtung gemeinsam vereinbart wurde und Leadership entsprechend der verabredeten Leitbilder und Rahmenbedingungen den Kurs hält.

Nach den Schulschließungen sollte es keine Rückkehr zum „Normalen“ geben dürfen: Angesichts der mehr als vierzehnmonatigen Entwöhnung vom Sozial- und Lernraum Schule sind wir gefordert, alle Lernsettings an den sozio‑emotionalen, kognitiven und kulturellen Lernvoraussetzungen auszurichten und damit Personalisierung zum „Nordstern“ unserer Schul- und Unterrichtsentwicklung zu machen. „Lernen in Distanz“, „Schule @...“  haben die Grenzen des starren und engen „Klassenzimmers“ aufgelöst und gezeigt, dass Lernen auch außerhalb der Schule unter bestimmten Voraussetzungen gut gelingen kann. Die Schule selbst wird als Ort demokratischer, ästhetisch kultureller, spiritueller Erfahrungen und als Ort gemeinsamen Lernens nach der Pandemie wieder mehr an Bedeutung gewinnen, wenn es uns gelingt, Lehren und Lernen im Sinne der obigen Ausführungen kreativer und damit zukunftsgerichteter zu gestalten und weiterzuentwickeln. 

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