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Töchter

Lucy Fricke. Coverbild ihres Romans "Töchter" © Verlag DANN WOLLEN WIR MAL


(Auszug aus dem Roman TÖCHTER, Seite 29 bis 33)

Geschlossene Vorhänge, gespültes Geschirr, vier gepackte Kartons undeine  leere Garderobe. Die Wohnung war zum Verlassen bereit. Kurt stand im Flur, hielt sich aufrecht in der Umarmung seiner Tochter.

Zu der Zeit, als Martha geboren wurde, war es eine Neubauwohnung gewesen. Damals waren junge Familien hier eingezogen, heute starben in dem trüben Sozialbau die übrig gebliebenen Eltern. Die meisten Kinder waren entkommen, manche vielleicht wie Martha, mit Studium,
Auslandsaufenthalten und Umzug in die Hauptstadt. Mir kam das alles bekannt vor, obwohl ich niemals hier gewesen war. Selbst war ich an einer Hamburger Hauptverkehrsstraße aufgewachsen, in einem Haus, das aussah wie dieses, in einer Wohnung, in der ich jeden Gegenstand hasste. Nie hatten wir darüber gesprochen, von unseren Kindheiten nur in Anekdoten erzählt, über die wir nicht lachen konnten. Als wären wir vom Himmel gefallen, hinabgestoßen eher. Martha und ich lernten uns im Alter von zwanzig Jahren kennen, schon damals hatten wir die Herkunft von uns abgetrennt, nicht sauber, aber konsequent, und dass es diese Vergangenheit war, die uns wortlos verband, verstand ich erst jetzt, in dieser Wohnung, in den drei engen Zimmern, in denen die Wände braun geraucht waren.

Kurts Gepäck bestand aus einem rosafarbenen Kinderkoffer, einer Lidl-Tüte und einer Alukrücke. Alles andere würde hierbleiben, Martha würde die Wohnung auflösen müssen, darum hatte er sie gebeten.
Das war das Letzte, was zu tun blieb. Den Haushalt auflösen, jedes Teil in die Hand nehmen, Erinnerungen sichern, in Kartons verpacken, über Fotos weinen, über Postkarten, die sie ihm selbst geschickt und von denen sie nicht geahnt hatte, wie wichtig sie ihm waren. Auflösen.

Auslöschen.

Gesagt hatte er nie viel. Wir waren die Töchter von Vätern, die erst im Ruhestand die Zeit fanden, mit uns zu reden. Wir erklärten ihnen das Internet und sie uns das Wetter. Die Liebe kam so spät, dass wir kaum
noch etwas anfangen konnten damit. Wir nahmen sie nur noch hin, in Dankbarkeit. Aber geben konnten wir wenig und zurückgeben schon gar nichts.

«Setzt euch doch», sagte Kurt und hatte sogar einen Kaffee gekocht, obwohl er den selbst nicht mehr vertrug. Er war so bitter, dass auch wir ihn nicht vertrugen, aber das sagten wir nicht.
Über der Anrichte aus Eiche gab es einen gelben, rechteckigen Fleck.Ein weiteres helles Quadrat fand sich rechts neben dem Fernseher. Die Bilder waren noch nicht lange weg, im Vergleich zum Rest der Wände waren diese Stellen geradezu weiß. Alles, was sich noch irgendwie zuGeld hatte machen lassen, war aus der Wohnung verschwunden. Der Grat zwischen Minimalismus und Armut war ein schmaler, allerdings offensichtlicher. Nichts hier drin hatte jemals Stil gehabt. In der Küche stand bloß noch das Altglas.

Wir saßen auf den durchgesessenen Polstern einer Couchgarnitur, die damals zu jeder amtlichen Ehe gehörte und deren Raten er wahrscheinlich noch hatte abzahlen müssen, als die Frau ihn längst verlassen hatte. Was am Ende einer Ehe blieb, war das Sofa, auf dem man sich besaufen oder erschießen konnte.

«Schön, dass Sie uns begleiten», sagte Kurt zu mir. «Von zwei so hübschen Frauen durch die Gegend gefahren zu werden, das ist nicht jedem vergönnt, was?»

Wir nickten alle drei, und ich hatte Angst, wir würden damit gar nicht mehr aufhören. Dieses Nicken gegen die Sprachlosigkeit. Was ich im Leben schon genickt hatte, wie die Wiedergeburt eines Wackeldackels.

Ich gehörte zu jener Sorte Mensch, die nickend auf einem Küchenstuhl saß, wenn sie verlassen wurde. Und so würde ich die nächsten acht Stunden am Steuer sitzen. Ich würde auf die Fahrbahn starren, nicken und die Zähne zusammenbeißen. Meine Beißschiene hätte ich mitnehmen sollen.

Kurt blickte sich im Wohnzimmer um, streichelte dabei die Armlehne seines Sessels. Es gab hier keine Tiere und keine Pflanzen, und irgendwo musste die angestaute Zärtlichkeit schließlich raus.

«Ja», sagte Kurt. «Wollen wir dann mal?»

Als Erste sprang Martha auf, mit einer Ungeduld, die ich nicht kannte von ihr. Vielleicht hoffte sie, dass irgendetwas anders würde, wenn sie nur genug Druck machte auf diese letzten Stunden.

Ich trug seinen kleinen rosafarbenen Koffer die zwei Etagen hinunter und wartete draußen. Eine verkehrsberuhigte Straße, aus der die Kinder längst weggelaufen waren, gegenüber ein Spielplatz, mit einer Schaukel an rostigen Ketten. Wie verabschiedet man sich von einer Gegend, die schon vor einem gestorben war? Aus dem Treppenhaus hörte ich, wie Kurt der Nachbarin etwas erzählte von einem Urlaub in der Schweiz, mit der Tochter zusammen, ja, das werde sicher schön, ganz bestimmt. Wer das glauben sollte, fragte ich mich. Wer machte denn heute noch Urlaub in der Schweiz, wenn es billiger war, nach Spanien zu fliegen?

Die Nachbarin lachte laut und ahnungslos, schloss die Tür mit guten Wünschen.

«So, dann wollen wir mal», sagte Kurt wieder, als er auf der Straße neben mir stand, und er ging voraus, seine Krücke klopfte auf den Asphalt. Diesen Satz würden wir noch oft hören, da war ich mir sicher. Wann immer eindeutig war, dass niemand konnte, sich niemand traute, musste es einen geben, der es sagte: «Dann wollen wir mal.» Mit diesem Satz ging man los, um sich das Leben zu ruinieren.

Kurt führte uns zu seinem Wagen, der, wie angekündigt, seit über einem Jahr in der Nebenstraße parkte. Stumpf stand er dort am Rand, vom letzten Blütenjahrgang verklebt.

«Waschen habe ich nicht mehr geschafft.» Mit diesen Worten drückte er mir den Schlüssel in die Hand und bestand darauf, hinten zu sitzen. Da habe er in seinem eigenen Auto kein einziges Mal gesessen, da habe überhaupt noch nie jemand gesessen. «Die Rückbank ist wie neu», sagte er.

Es war das Einzige, das wie neu war. In diesem Auto hatte er sinniert, wie er meinte, hierher war er gekommen, um nachzudenken. Ein Denken auf Rädern, auch wenn sie stillstanden. Im Fußraum lagen zerdrückte Bierdosen, der Aschenbecher war unter den Kippen nicht mehr zu sehen, CDs verstaubten auf den Sitzen. Am Spiegel hing hilflos ein Wunderbaum der Sorte Tanne, der längst aufgegeben hatte.

«Baujahr 96», sagte Kurt, «zwanzig Jahre unfallfrei. Die Versicherung kann ich Martha noch vererben. Wenn ich sonst schon nichts zu vererben habe.»

Ich drehte den Schlüssel um und hörte ein leises Krächzen. Wir weckten einen Toten, kurbelten die Fenster hinunter und fuhren los.


Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags

Autorin

Lucy Fricke Foto: © Dagmar Morath Lucy Fricke  in Hamburg geboren, hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert, lange Jahre beim Film gearbeitet und bisher vier Romane veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ihr Buch «Töchter» erhielt den Bayerischen Buchpreis 2018. „Töchter“ zählt zu den Bestsellern 2018/2019 , ein Roman über Freundschaft, Väter und das Leben mit Vierzig.
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