Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Nachtleuchten

María Cecilia Barbetta, Nachtleuchten © S. Fischer Verlage

(Auszug aus: "Nachtleuchten", © 2018, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Jedes Mal, wenn Álvaro Fatini vor dem Waschbecken stand und einen Blick in den Spiegel warf, erfasste er aus den Augenwinkeln das Foto von Eva Perón auf dem Balkon des Präsidentenpalastes. Er selbst hatte es dort befestigt, mit Klebeband an der unverputzten Wand der Autowerkstatt, damit jeder sehen konnte, dass die komplette Plaza de Mayo ihr zu Füßen lag. Die Porträtierte schaute auf, als wollte sie in den Himmel steigen, die Arme wie Flügel ausgebreitet, das goldene Haar, den Gesetzen der Aerodynamik folgend, am Hinterkopf zu einem Dutt zusammengebunden. Evita strahlte, weil das Volk sie anhimmelte. Ihre Anhänger glaubten damals wie heute, diese Erscheinung ist die Sonne selbst, die sich über den Horizont erhebt und über ihnen scheint. Eigentlich schien die Sonne die einzige unerschöpfliche Reserve in einem ausgelaugten Land zu sein, die einzige Quelle, die seit jeher uneigennützig die durch den ständigen Wechsel von Militärregierungen und schwachen Demokratien angeschlagene Nation angenehm wärmte und unausweichlich den einen oder anderen Teil der Bevölkerung schläfrig machte.

Álvaro war nach dem Mittagessen sichtlich müde. Beim Gähnen streckte auch er sich genüsslich in die Höhe. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt die Handgelenke unter den kalten Strahl, dann die Unterarme, erfrischte sein Gesicht, und da er kein Mann für halbe Sachen war, hielt er schließlich den gesamten Schädel unter das Wasser; in Zeiten wie diesen, wo Argentinien sein Oberhaupt verloren hatte, tat man besser daran, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Bemüht, die Untergangsstimmung zu vertreiben, der das von der Straße heraufdringende Sirenengeheul Nachdruck verlieh, richtete er sich wieder auf. Ohne sich nach dem Handtuch umzuschauen, das zerknüllt auf der Ablage neben dem Waschbecken lag, beendete er die Prozedur, indem er seine wilde Mähne in sämtliche Himmelsrichtungen schleuderte. Dabei geriet alles, was sich im Umkreis von einem Meter befand, in den Sprühregen hinein: Evita, der Spiegel von Don Julio, die Mannschaft des Club Atlético Boca Juniors, der Christophorus, der den Jesusknaben über den Fluss getragen hatte und deshalb Patron der Autofahrer geworden war, der Pirelli-Kalender, die Tabelle mit den 99 Lottozahlen und den zugehörigen Traumbildern [...]. Wasser, so weit das Auge reichte – ein Gedanke, der sich Anfang des Jahrhunderts Álvaros Großeltern aufgedrängt haben müsste, als sie mit dem Wenigen, was sie am Leibe trugen, das faschistische Italien verließen und dem Versprechen auf eine bessere Zukunft nachzureisen wagten. In einer kräftezehrenden Odyssee überquerten sie den grenzenlosen Ozean, um sich im argentinischen Niemandsland niederzulassen. Die Fatinis waren gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen und hart anzupacken, wenn es um ihre Ideale ging. Es war inzwischen ein Jahr her, dass Álvaro den Chef von AUTOPIA aufgesucht hatte, in der Hoffnung, in sein Team aufgenommen zu werden.

»Sie müssen mich vom Sehen kennen, Don Julio«, hatte er frei von der Leber weg behauptet und das betretene Schweigen ignoriert. »Ich für meinen Teil kann Ihnen versichern: Im Laufe meiner Ausbildung habe ich Ihr Werkstattschild nicht aus den Augen verloren. Eine Art Leuchtturm war es mir, ein klares Zeichen, mit dem Sie mir aus der Seele gesprochen haben. Ich habe es stets gewusst, Don Julio: Es sind hochfliegende Träume, die jeden Einzelnen am Leben halten. Obwohl ich mich ganz schön gedulden musste, bis ich meine Unterlagen beisammen hatte, um hier vorstellig zu werden, habe ich Ihnen im Geiste immerzu recht gegeben: Wer sich in Argentinien eine ehrwürdige Existenz aufbauen will, braucht eine Vision. Wir brauchen eine Utopie, wir kommen nicht drum herum! Davon können die Einwanderer ein Lied singen – die Italiener, die Spanier, die Polen, die Russen, die Araber und wie sie alle heißen und wo sie alle hergekommen sind. Uns, den Nachkommen – ich sag lieber: Nachfahren – , ist ihr bewunderungswürdiger Kampf und Überlebenswille eingeimpft worden. Ohne Utopie kein Durchhalten, Don Julio, das steht fest. In der Berufsschule hat sich mir einiges erschlossen, und Sie werden mir zustimmen: Unser Leben basiert auf dem Prinzip der Mechanik. Die Existenz, Don Julio, lässt sich bewerkstelligen. Man kann daran herumbasteln, als wäre sie ein Chevrolet. Man soll Ansprüche runterschrauben, ab und an auf die Bremse treten, aber auch keine Kraftanstrengung scheuen. Unser Motor will geschont werden, damit wir im richtigen Moment Gas geben können … Ich weiß, was Sie denken. In AUTOPIA sind nicht nur Mechaniker beschäftigt, sondern auch Lackierer, denn selbst die Oberfläche muss stimmen, wenn man als blitzgescheites Individuum darauf aus ist, einen glänzenden Eindruck zu hinterlassen. Was den hiesigen Alltag angeht, ahne ich, was Sie der Belegschaft aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung mit auf den Weg geben möchten: Weil im Leben alles eine Frage der Zeit ist, geht es in der Werkstatt genauso wie da draußen auf der Straße um Autonomie, um die Lehre von der Selbständigkeit – eine große Kunst. Darauf steuern wir zu!«

Julio El Haddad wollte Álvaro Fatini, der so schön in Fahrt geraten war, nicht unterbrechen und kratzte sich am Kopf.

»Glauben Sie mir, Don Julio«, fuhr der junge Anwärter begeistert fort, »ich bin überzeugt, dass der Mensch – egal in welcher Phase – gut daran tut, wie ein maschinelles Räderwerk an der Verwirklichung seiner edlen Ansinnen zu arbeiten, sonst haben die verdammten Gauner, die unsere Demontage wollen, uns irgendwann in der Zange … Hier, bitte sehr! Werfen Sie einen Blick auf das Zeugnis. Drittbestes Ergebnis bei der Gesellenprüfung. Ich habe es soeben abgeholt und keinen stichhaltigen Grund gesehen, es Ihnen länger vorzuenthalten … Das tut übrigens nichts zur Sache, doch es gibt noch etwas, das Sie vielleicht wissen sollten: Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche, als bei Ihnen anzufangen, möchte ich mich in meiner Freizeit weiterhin als Autor betätigen. Was meine zweite Leidenschaft anbelangt, bin ich stolzer Auto … didakt, Don Julio. So fügen sich einmal mehr die Teile zusammen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Natürlich verstehen Sie das. Sie sind hier letztendlich der Chef, das Sprachrohr von AUTOPIA, die offizielle Stimme, die ihres gleichen sucht. Ich dagegen rede nicht viel, wenn es nicht sein muss. Ich schreibe lieber. Nicht einzig und allein Autobiographisches. Ich schreibe hier und da meine Zeilen, entwerfe und verwerfe vor mich hin, komme dadurch auf nie dagewesene Gedanken, aber wie gesagt, ausschließlich nach Feierabend und wenn nichts Wichtigeres ansteht. Gerade deshalb sollten wir jetzt loslegen!«

Voller Freude reichte Álvaro Don Julio die Hand, damit er einschlage.

Autorin

María Cecilia Barbetta Foto: © Markus Höhn María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem Einwandererviertel Ballester, in dem ihr Roman »Nachtleuchten« spielt, auf und besuchte dort die deutsche Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch. 

Mehr...
Top