Marcelo Chardosim
Leute gesucht, die Alvorada mögen

Von Paula Ramos
Die Stadt Alvorada in der Metropolregion Porto Alegre weist erschütternde soziale Kennzahlen auf. Sie ist die Stadt mit der höchsten Gewaltrate im Bundesstaat Rio Grande do Sul, steht damit an 12. Stelle in ganz Brasilien und erreichte 2017 laut der Statistik des Ministeriums für öffentliche Sicherheit des Bundesstaates die traurige Marke von 90 Tötungsdelikten auf 100.000 Einwohner. Aus einer Untersuchung der gesamten Südregion Brasiliens im Rahmen der brasilienweiten Studie SINESP 2015 sticht Alvorada zudem mit der höchsten Rate an Tötungsdelikten und Toten durch Schusswaffen hervor, dem höchsten Drogenmissbrauch, der höchsten Rate an Gewalt gegen Frauen, Senioren und Kinder und, kaum überraschend, den niedrigsten Kultur- und Human-Development-Indizes. In jeder Wahlperiode werden neue Abkommen zur Verbesserung dieser Situation geschlossen, aber getan wird nur wenig. Die Schlafstadt mit ihren Problemen und ihren Bewohnern bleibt weiter im Griff der Gewalt. Wer sollte Alvorada vor diesem Hintergrund mögen? Will man dort leben? Wohl kaum. Doch Marcelo Chardosim glaubt, dieses Bild umkehren zu können, wenn man Alvorada nur gern hat. Und er sucht Partner, die ebenfalls daran glauben.
Seit seinem zwölften Lebensjahr wohnt er in der Stadt und wuchs mit dem Gezeter der Hahnenkämpfe auf, lernte umzugehen mit der Gewalt in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen: körperlich, verbal, psychisch, gegenüber der Diversität der Geschlechter, durch Misshandlung von Tieren, Zerstörung von Vegetation und Verseuchung des Wassers. Seine Kunst zwischen Erinnerung und Anklage problematisiert diesen Zustand nicht nur, sondern will ihn verändern.
Wie Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag (2015), eine Stadtinstallation auf brachliegenden Flächen an den großen Straßen Voluntários da Pátria und Farrapos in Porto Alegre, zum 243. Jubiläum der Hauptstadt des Bundesstaates. Mit dem Kontrast zwischen rußschwarzen Mauern und den verblichenen Farben eines Fotos von einem Kindergeburtstag scheint der Künstler uns über den Stellenwert farbenfroher Erinnerungen an glückliche Tage umgeben von Verwahrlosung und Nachlässigkeit in der Gegenwart zu befragen. Angesichts einer von der Bevölkerung hingenommenen Geringschätzung und schreiender Untätigkeit der Regierenden auf allen Ebenen.
Seit 2016 ruft Marcelo in unermüdlichem Aktivismus Alvoradas Bewohner dazu auf, sich gegenüber der Stadtverwaltung kritisch zu positionieren.
Paula Ramos
Auslöser war der Verkauf der früheren Praça Porto Verde eines Platzes im Stadtteil Jardim Algarve. An Wochenenden trafen sich dort Familien und Freunde zu Dutzenden, um sich zu unterhalten, Sport zu treiben, Mate zu trinken. Mit der Veräußerung des Geländes mussten als erstes die Bäume weichen, zunächst zugunsten eines Anblicks der Verwüstung und des Elends verkohlter Pflanzenreste und Baumstümpfe, dann der Filiale einer neupentekostalen Kirche. Sich erneut vergewaltigt fühlend startete Chardosim einen Aufruf über soziale Netzwerke: „Gebt uns die Praça Porto Verde zurück“. Die Nachbarschaft reagierte darauf mit eigenen Erklärungen und Posts über ihre jeweilige Verbindung mit dem Platz und gegen die Position der Regierenden.
Eines Tages entdeckte der Künstler, als er die traurige Umwandlung fotografisch dokumentierte, eine in einem vertrockneten Lehmklumpen welkende Lilie. Anstatt sie dort liegen zu lassen, wie all die anderen untergegrabenen Pflanzen, nahm er sie mit, um sie zu Hause aufzupäppeln. Neben der langsam ergrünenden Pflanze keimte friedlich und ebenso kraftvoll ein kleiner Wunderbaum, ein Rizinusstrauch. Irgendwann ging er abends zurück zu dem früheren Platz und setzte die beiden Pflanzen dort wieder aus. Er zäunte sie mit Bambusstangen ein und schrieb an die Wand des über so viele Erinnerungen errichteten Gebäudes: „Platz“. Wie lange würden die Pflanzen wohl durchhalten? Nur die Gemeinschaft kann das sagen. Wie viele solcher Plätze werden erhalten bleiben? Auch das wird nur die Gemeinschaft sagen. Kürzlich wurde ein weiterer Ort der Erholung verkauft. Dort steht nun ein Lagerhaus. Gegen so viel Missachtung und Gleichgültigkeit klebt Marcelo nun kleine Plakate an Straßenlaternen, Mauern und Bushaltestellen: „Leute gesucht, die Alvorada mögen.“
Parque da Solidariedade, 2018; Digtaldruck auf papier | Werk und Foto: Marcelo Chardosim
Mit seinem Hinweis an die Bewohner auf das, was sie nicht mehr haben, aber noch haben könnten, wenn sie sich dafür einsetzen würden, stieß der Künstler nun die Kampagne „Parque da Solidariedade“ (Park der Solidarität) an, das Projekt einer Grünfläche zwischen den Stadtvierteln Aparecida, Jardim Algarve und Stella Martins, wo sich heute noch eine Hausmülldeponie befindet. In dem grafischen Material dazu sind Sportplätze eingezeichnet und großzügige Rasenflächen, auf denen Besucher unter anderem in der Sonne sitzen und sich unterhalten könnten. Zu viel verlangt?
Über Dokumentation und Anklage, Gespräche und Mobilisierung, Pamphlete und Interventionen, pragmatisch und poetisch baut Marcelo Chardosim Leben und Werk, das auf Haltung im Alltag setzt, auf emanzipatorische Bildung, das, was direkt nebenan ist und für das man sich einsetzen kann und soll. Mikropolitik ist der Weg, und er glaubt, dass es möglich ist, mit seiner Arbeit und Hartnäckigkeit und gemeinsam mit vielen anderen, die ähnlich denken, das Ruder noch einmal herumzureißen und eine egalitärere, solidarischere Stadt zu errichten: ein Alvorada, in dem es sich leben lässt. Und ich glaube das auch.

Marcelo Chardosim
Geboren 1989 in Porto Alegre, Rio Grande do Sul. Graduiert in visueller Kunst an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul (UFRGS). Derzeit entwickelt er das Projekt Abrigo do Sol in Alvorada (Rio Grande do Sul). 2017 beteiligte er sich an der Gruppenausstellung „Salta d’água: Kritische Dimensionen der Landschaft“ am Kunstinstitut der UFRGS. 2016 nahm er an der kollaborativen Künstlerresidenz der Sambaschule Unidos da Vila Isabel in Viamão (Rio Grande do Sul) teil. Er war beteiligt am Projekt „Grude“ mit Plakaten in allen Hauptstädten Brasilien. 2015 war er Teilnehmer des Programms „Verloren im öffentlichen Raum“ der 3. Begegnung von Universitäten und Städten. Fünf Einzelausstellungen und zahlreiche Gruppenausstellungen, u.a. im Museum für Archäologie und Ethnografie von Santa Catarina, dem Museum für zeitgenössische Kunst von Rio Grande do Sul (MAC-RS), dem Kunstmuseum von Rio Grande do Sul Ado Malagoli (MARGS), der Usina do Gasômetro oder dem Memorial für die Menschenrechte des Mercosur.