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Ottjörg A.C.
Verborgene Geschichten

Aus der Serie Marca Rural Feuer und Stier auf 350g. Bütten, 60 x 80 cm
Aus der Serie Marca Rural Feuer und Stier auf 350g. Bütten, 60 x 80 cm | Werk: Ottjörg A.C. | Foto: Fernando Zago
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Von Cauê Alves

Die Drucke von Ottjörg A.C. sind aufgeladen mit historischen Bedeutungen. Spuren, Risse und Schnitte auf den Oberflächen sowie die Druckverfahren und die Wahl der Matrizen erweitern die Möglichkeiten zum Verständnis historischer Narrative. Preußisch-schwarz-weiß zum Beispiel ist ein Projekt, das die Spuren der Vergangenheit aus den Tiefen der Erde hervorholt.

Wenngleich es die Farben Schwarz und Weiß waren, die die ehemalige Flagge des Königreichs Preußens kennzeichneten, ist es doch das sogenannte Preußisch Blau, das selbst nach dem Niedergang des Reichs erhalten blieb. Als der Chemiker Diesbach um das Jahr 1704 versuchte, ein wertvolles Rot-Pigment herzustellen, entdeckte er ein synthetisches Blau. Durch einen Zufall, nämlich über die Oxidation von Eisen, gelangte er zu diesem Farbton, der später zum Färben der preußischen Militäruniformen verwendet wurde.

Ottjörg A.C.s Drucke enthalten nicht nur das Preußisch Blau, sie wurden außerdem mit Matrizen gefertigt, die Teil der verborgenen Vergangenheit Deutschlands sind. Unter Verwendung verschiedener traditioneller Techniken druckte der Künstler die komplette Oberfläche von Holzpfählen der königlichen Residenz Preußens. Hierbei handelt es sich um gut fünf Meter lange, 300 bis 400 Jahre alte Baumstämme, die das Fundament des Schlosses Friedrich Wilhelm I., König von Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bildeten. Soldatenkönig genannt, war er einer der Hauptakteure beim Aufbau der preußischen Militärmacht, deren Hauptstadt Berlin war.

Blau Boden © Ottjörg A. C. Diese einst in die Erde gerammten Holzstämme wurden bei einer Art archäologischer Ausgrabung entdeckt. 2012 mussten bei den Bauarbeiten zum Wiederaufbau der Fassade des Schlosses, dieses Bauwerks eines der mächtigsten Königreiche Europas, das von 1871 bis 1918 Regierungssitz des Kaiserreichs war, die alten Fundamente entfernt werden. Sie sind der unsichtbare Teil, der jenen Bau stützte, von dem die institutionelle politische Macht ausgeübt wurde. Diese Holzstämme stellen buchstäblich die vergrabene Struktur dar, auf die sich das Symbol der Macht gründete. Es ist, als würden die monumentalen Grafiken des Künstlers Geschichtsfragmenten eine Sichtbarkeit verleihen, indem sie genau von dem Nicht-Sichtbaren ausgehen, das jedoch die ganze sichtbare Welt stützt.

Neben dem Preußisch Blau und dem Eisenstaub hat Ottjörg A.C in seinen Drucken auch Tierblut, z.B. von Pferden, verwendet. Dies mag eine Anspielung auf die blutigen Schlachten und Kriege sein, in denen die Pferde wichtige Bestandteile des Heeres waren. So wie das Fundament im Boden die Gebäude stützt, ist das Blut die zentrale Flüssigkeit, die im Körper fließt und die nötigen Elemente wie das Eisen transportiert, damit der Körper bestehen kann. Das Eisen des Preußisch Blau und das Blut waren nicht nur im metaphysischen Sinne bedeutsam, sie waren auch Hauptakteure bei der Errichtung des deutschen Staates. Otto von Bismarck, wichtigster deutscher Staatsmann des 19. Jahrhunderts, bekannt als Eiserner Kanzler, musste, wie viele andere auch, Blut vergießen, um seine politischen Ideen durchzusetzen.

 
 
  • S/F Blau  {S+Kf+π1} (detail), 2017/18. Aus dem Projekt: „Preußisch-schwarz-weiß“  Preussisch Blau in Japanseide  mit traditionell fernostasiatischer Tamponmethode während des Druckvorgangs  synthetisiert © Ottjörg A. C.
    S/F Blau {S+Kf+π1} (detail), 2017/18. Aus dem Projekt: „Preußisch-schwarz-weiß“ Preussisch Blau in Japanseide mit traditionell fernostasiatischer Tamponmethode während des Druckvorgangs synthetisiert
  • Aus dem Projekt„Preußisch-schwarz-weiß“ Pferdeblut und Eisen auf Japanischer Seide in traditionell fernostasiatischer Tamponmethode gedruckt © Ottjörg A. C.
    Aus dem Projekt„Preußisch-schwarz-weiß“ Pferdeblut und Eisen auf Japanischer Seide in traditionell fernostasiatischer Tamponmethode gedruckt
  • Stamm mit und ohne Seide; Aus dem Projekt: „Preußisch-schwarz-weiß“  Preussisch Blau in Japanseide  mit traditionell fernostasiatischer Tamponmethode während des Druckvorgangs  synthetisiert; 2017-18 © Ottjörg A. C.
    Stamm mit und ohne Seide; Aus dem Projekt: „Preußisch-schwarz-weiß“ Preussisch Blau in Japanseide mit traditionell fernostasiatischer Tamponmethode während des Druckvorgangs synthetisiert; 2017-18
Blut bildet ebenso wie die Gewalt für Ottjörg A.C. den Ausgangspunkt bei Marca Rural, einem Werk, das im Hinterland des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul entstand. Hier verwendete der Künstler als Farbe und Material für seine Monotypien die Hoden kastrierter Rinder. Die erotische Kraft der Sexualorgane der Stiere verbindet sich so mit der Gewaltanwendung, der diese Tiere ausgesetzt sind. Die Drucke beinhalten auch Zeichen eines Opfers, nämlich des profanen Rituals zur Kennzeichnung des Viehs mit dem Brenneisen und dem Emblem ihres Besitzers. Das stumme Leid der Tiere ist in der Arbeit präsent. Das heiße Eisen, mit dem man die Rinder kennzeichnete, wurde, noch mit Haarresten behaftet, auf das Papier gedruckt, das so zu einer Entsprechung der Haut, zum Symbol für die Macht des Besitzers und die Herrschaft durch physische Gewalt wurde. Die Drucke, die sich vom Bereich des Darstellenden entfernen, machen die menschliche Barbarei sichtbar, auf die sich die Zivilisation und die Kultur seit Menschengedenken stützen.
  So, wie die Grundpfeiler des Schlosses in Preußisch Schwarz-Weiß die Grundlage der militärischen Macht des Königreichs aufzeigen, verdeutlicht Marca Rural die tägliche Gewalt, die sich auf die Umwandlung von Tierleben in mit dem Eisen gekennzeichnetes Eigentum gründet.

Eisen ist ein zentraler Rohstoff im Werk von Ottjörg A.C., sei es als Pigment, als Matrize oder sogar als verschwundenes Element. Während seines Aufenthalts in Porto Alegre bemerkte der Künstler, dass verschiedene Eisenplaketten mit Inschriften öffentlicher Denkmäler der Stadt gestohlen worden waren. Im Bewusstsein darüber, wie fehlende Informationen über Denkmäler das Gefühl für die Geschichte beeinflussen können, verwirklichte er eine bedeutsame Aktion: Die fehlenden Plaketten wurden ausgemessen und der Künstler produzierte stattdessen Plaketten aus Harz mit Drucken aus seiner Serie Marca Rural .Anschließend wurden in die Leerstellen diese Werke des Künstlers eingesetzt. Bei dieser Arbeit geht es um die Transformation von Denkmälern zu bloßen Bildern, und sie zeigt auf, wie alte Rituale in abstrakten Drucken erhalten bleiben.

Öffentliche Denkmäler erzählen in der Regel die Geschichte von Siegern, von jenen, die Kriege und Schlachten gewannen und zu Helden wurden. Die Geschichte der Sieger neigt dazu, bestimmte Persönlichkeiten zu mystifizieren, und sie bestimmt, dass eine Vergangenheit als wahr aufgefasst wird. Doch das Vergessen, auf das die fehlenden Plaketten hinweisen, ist wie eine Negierung dieser offiziellen Geschichte, ist eine Leere, die, zumindest kurzfristig, die Sieger in Besiegte umwandelt. Die Narrative, die sie zu Protagonisten machten, sind ausgelöscht.
  • Marca Urbana - Denkmal an Antônio de Sampaio, Porto Alegre. Brigadeiro Sampaio Säbel, 2018; 41 X 60. © Ottjörg A. C.
    Marca Urbana - Denkmal an Antônio de Sampaio, Porto Alegre. Brigadeiro Sampaio Säbel, 2018; 41 X 60.
  • Denkmal an Dom Sebastião, Porto Alegre, 2018. Dom Sebastião Schwarzer Granit mit Büste 87 X 53. © Ottjörg A. C.
    Denkmal an Dom Sebastião, Porto Alegre, 2018. Dom Sebastião Schwarzer Granit mit Büste 87 X 53.
  • Marca Urbana - Denkmal Dom Feliciano Platz, 2018. Dom Feliciano, 59 X 38 cm. e 70 X 38 cm © Ottjörg A. C.
    Marca Urbana - Denkmal Dom Feliciano Platz, 2018. Dom Feliciano, 59 X 38 cm. e 70 X 38 cm
  • Marca Urbana - Denkmal an der Ecke - Borges de Medeiros u. Senador Salgado Filho Str., Porto Alegre, 2018. BorgesSalgado 66 X 44 cm. © Ottjörg A. C.
    Marca Urbana - Denkmal an der Ecke - Borges de Medeiros u. Senador Salgado Filho Str., Porto Alegre, 2018. BorgesSalgado 66 X 44 cm.
  • Marca Urbana - Denkmal an Barão do Rio Branco, Porto Alegre, 2018. © Ottjörg A. C.
    Marca Urbana - Denkmal an Barão do Rio Branco, Porto Alegre, 2018.
Die Arbeit des Künstlers macht die Leere und Stille einer begrabenen oder verschwundenen Geschichte sichtbar. So gelingt Ottjörg A.C. mit den städtischen Ruinen und Spuren ein Schnitt, der es ermöglicht, den kontinuierlichen Fluss der Geschichte zu unterbrechen.
 
© Pátio Vazio / Goethe-Institut Porto Alegre

MARCA URBANA

In einer temporären Intervention ersetzt der Künstler Ottjörg A.C. die Leerstellen an einigen Monumenten in Porto Alegre, an denen sich einst Schriftplatten befanden, durch Bilder. Diese Bilder sind Monotypien auf Papier in Gießharz eingegossen. Der Künstler wurde zu diesen Arbeiten inspiriert durch seine Erfahrungen in Rio Grande do Sul.

 

© Pátio Vazio / Goethe-Institut Porto Alegre
 

öttjorg A.C.

7813 v. u. Z. Europa kastriert einen Stier.
1547 In England wird das Brandmarken eigener Bürger im Gesicht als Vagabunden eingeführt.
1706 Ein Turm im Bau auf der Münze in Berlin, die Macht des neuen Königs Friedrich I. von Preußen symbolisierend, stürzt in den sumpfigen Boden Berlins und erschlägt einige Arbeiter.
1958 Eizelle und Sperma einer Kraichgauer Bauern- und einer Pommerschen Kapitänsfamilie synthetisieren zu Ottjörg.
1989 Ottjörg erlebt die Niederschlagung der Demokratiebewegung in den Straßen Pekings. Er sieht aus der Akademie der Künste/Ost am Brandenburger Tor die Berliner Mauer fallen.
1993 Studien in Wien, Leningrad/St. Petersburg, Abschluss des Kunststudiums an der Hochschule der Künste Berlin mit Auszeichnung.
2004 bis 2007 Gastprofessuren in China,  Erfahrung mit chinesischen Drucktechniken.
2004 bis 2021 intensive Begegnungen mit Gauchas/os.


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