Thomas Kilpper
Gedruckte Spuren der Geschichte

Von Ludwig Seyfarth
Das Engagement gegen jegliche Form politischer Unterdrückung prägt Thomas Kilppers stets orts- oder projektbezogene künstlerische Arbeit. Eines seiner zentralen Darstellungsmittel sind großformatige Schnitte in die vorgefundene Substanz – oft die Fußböden - meist leerstehender Häuser. Die Motive reflektieren stets die Geschichte und Funktion der Orte und basieren oft auf Vorlagen von Medienbildern und setzen diese collageartig zusammen, so dass sich ein Panorama historisch oder politisch bedeutsamer Personen und Ereignisse ergibt. Stilistisch erinnern die Darstellungen an Grafiken des Expressionismus und kommunistische Flugblätter aus den 1920er Jahren.
Die Aufsehen erregendste Intervention fand 2009 in dem – seinerzeit der Deutschen Bahn AG gehörenden – ehemaligen Ministerium für Staatsicherheit der DDR in Berlin-Lichtenberg statt. Auf 800 qm hat Kilpper hier zahlreiche Motive in den PVC-Boden hineingeschnitten, die beispielhaft für die komplexe Geschichte der Überwachung stehen, ohne dass die Darstellungsweise selbst eine moralische oder politische Wertung enthält. Der Boden war gleichsam ein Stempel, von dem Stoff- und Papierdrucke abgenommen wurden.
Vergleichbar ist Thomas Kilpper in Porto Alegre vorgegangen. Hier verbrachte er 2016 auf Einladung des Goethe-Instituts einen dreiwöchigen Arbeitsaufenthalt in der Vila Flores. Der in den 1920 Jahren errichtete, aus drei Gebäuden bestehende Komplex heißt seit 2011 so und dient seitdem als Kulturzentrum und Arbeitsort für Künstler und Kreativunternehmer.
In einem der Räume nutzte Kilpper den Parkettfußboden für einen Holzschnitt. another world is necessary - or: don’t think about the crisis – fight! Der Titel spielt auf „another world is possible“ an, das Motto der Weltsozialforen. Das erste dieser Foren, als Gegenveranstaltung zu den jährlich stattfindenden Gipfeln der „Herrschenden“ – dem der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Weltwirtschaftsforum in Davos (WEF) – ins Leben gerufen, fand 2001 in Porto Alegre statt.
„another world is necessary - or: don’t think about the crisis – fight!“, Thomas Kilpper, Holzschnitt im Boden der Vila Flores (Druck auf Roh-Leinwand), Porto Alegre, 2016 | Bildrechte: VG-Bildkunst, Bonn und d. Künstler | © VG-Bildkunst, Bonn und d. Künstler
Dass die Stadt dadurch zu einem wichtigen Standort der sozialen kapitalismus- und globalisierungskritischen Bewegung wurde, ist zentraler Baustein einer umfangreichen Recherche, die Kilpper in Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Forschungsprojekt „Synsmaskinen“ unternommen hat. Synsmaskinen wird von Frans Jacobi vom norwegischen Bergen aus entwickelt, wo Kilpper eine Professur an der Kunsthochschule innehat. Der Name des Kollektivs ist aus der dänischen Übersetzung von Paul Virilios Buch „La Machine de Vision“ gebildet (SYN=vision, MASKIN=maschine). Kilpper und Jacobi haben für ihr Porto Alegre-Projekt das argentinische Künstlerkollektiv etcetera mit Loreto Garin und Federico Zuckerfeld eingeladen. Mit Synsmaskinen zusammen organisierten Garin und Zuckerfeld mit ihrer Bewegung des „Errorismus“ einen Marsch durch das Zentrum von Porto Alegre, bei dem Demoschilder mit der Aufschrift „UM OUTRO ERRO NÃO É POSSIVEL“ (ein weiterer Irrtum ist nicht möglich) getragen wurden. Solch ein Schild, wie auch ein Schriftband „UM OUTRO MUNDO É NECESSARIO“ ist auch auf dem in rot, grün und blau gedruckten Holzschnitt zu finden. Zu den zahlreichen Personen, deren Gesichter emblemhaft, an vergrößerte Porträts auf Briefmarken erinnernd, über die Bildfläche verteilt erscheinen, gehören der Architekt der Vila Flores, José Lutzenberger, Vater eines gleichnamigen bekannten Umweltaktivisten, oder Lyndon B. Johnson, der Präsident der USA war, als 1964 der Militärputsch in Brasilien stattfand, der den linksorientierten Präsidenten João Goulart stürzte. Dessen Frau Maria Theresa, die in Porto Alegre aufwuchs, sehen wir ebenso wie einen der bekanntesten Intellektuellen Brasiliens, Paulo Freire, der mit seiner „Pädagogik der Unterdrückten“ von der Militärregierung verfolgt wurde und schließlich emigrierte, wie auch der Schriftsteller und Regisseur Augusto Boal, der mit seinem „Theater der Unterdrückten“ gegen politische Missstände protestierte. Aber auch die „Gegenseite“ ist auf dem Holzschnitt präsent, etwa Carlos Alberto Brilhante Ustra, das erste als Folterer verurteilte Mitglied der Militardiktatur.
Diese auf gründlichen Recherchen beruhende Erinnerung an die politischen und kulturellen Kämpfe in Brasilien und in Porto Alegre wird, in den Boden der Vila Flores eingeschnitten, zur visuell und physisch erfahrbaren Metapher für die Spuren der Geschichte, die sich an diesem Ort überlagern, und gleichzeitig zum Bild der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Thomas Kilpper
Geboren 1956 in Stuttgart, lebt und arbeitet in Berlin. Kunststudium in Nürnberg, Düsseldorf und an der Städelschule in Frankfurt am Main. International bekannt für seine großformatigen Holzschnitte und kritischen Interventionen. Seine Werke sind in öffentlichen Sammlungen wie unter anderem der Tate Gallery (London) oder im Kupferstichkabinett (Berlin) zu sehen. Seit 2004 lehrt er an der Fakultät für Kunst, Musik und Design der Universität Bergen (Norwegen). Einige seiner jüngeren Projekte sind „Contemporary Footprints“ im Nationalmuseum Oslo (Norwegen 2015), „Não pense na crise - lute“ (Denke nicht an die Krise - kämpfe!; Porto Alegre, Brasilien 2016), „Ein Leuchtturm für Lampedusa!“ (Paris, Dresden und Kassel, 2016-2017) sowie „Spuren des Krieges“ (Pinakothek der Moderne, München 2017).