Vera Chaves Barcellos
Das Dispositiv denaturieren: Fotopiktografische Brechungen

Von Niura Legramante Ribeiro
Die Eigenheiten der Kunstmittel zu erforschen, war bei Gegenwartskünstlern, die mit Bildern von Bildern arbeiten, immer schon eine gängige Praxis. Die Wiederverwertung bereits existierender, aus den Massenmedien entliehenen Bildern erfolgt oftmals über plastische Transformationen, mittels derer die visuellen Regime der Kunst hinterfragt werden. Dies zeigt sich auch in den Arbeiten der Künstlerin Vera Chaves Barcellos.
Oftmals identifiziert mit der brasilianischen Kunst der 1970er Jahre, als man in der visuellen Kunst begann, kopierte Bilder zu verwenden, arbeitete Vera Chaves Barcellos mit Fotografien und Fotokopien, um Künstlerbücher, Mail Art, Installationen und Offset-Grafiken zu produzieren. Doch das Vielseitige zeigte sich bereits in ihren Drucken aus den 1960er Jahren. 1969 begann sie zu fotografieren, und zwischen 1972 und 1973 fing sie an, fotografische Verfahren für Siebdrucke zu verwenden. Nachdem sie abstrakte Drucke produziert hatte, stellte Barcellos fest, dass es die Fotografie war, die sie wieder zum Gegenständlichen zurückbrachte: “Sie war ein objektiveres Auge, mit dem ich die Welt um mich herum betrachten konnte“. (Interview, 2011).
Mit ihrer Arbeit Epidermic Scapes (1977/1982) schafft sie ein falsches Negativ, indem sie Teile ihrer Haut mit Holzschnitt-Tinte auf Pergamentpapier druckt, diese vergrößert und am Ende kontrastreiche Schwarz-Weiß-Fotografien daraus macht. Und so bleibt sie auch ihrer Vergangenheit als Druckgrafik-Künstlerin treu. Indem sie Nahaufnahmen von Grafiken ihrer Epidermis einrahmt, dekontextualisiert sie diese in einem Maß, dass sogar Assoziationen von Landschaftsbildern entstehen. Über die Fragmentierung und Vergrößerung dieser Körperlandschaften nutzt die Künstlerin die Möglichkeit der Fotografie, das Reale zu verfälschen und zu denaturieren.
Epidermic Scapes, 1977/1982. Abdrucke von Haut auf 6 Fotopapier vergrößert Fotografie S/W; ; 87 X 117cm. | © FVCB (Fundação Vera Chaves Barcellos) Archiv
Ab den 1980er Jahren arbeitete Barcellos dann intensiv mit Schwarz-Weiß-Fotokopien, bewahrte sich aber Erinnerungen an ihre Vergangenheit als Malerin (1962-65), indem sie malerische Akzente auf ihre reproduzierten Bilder setzte und diese anschließend abfotografierte, wodurch sie das Verhältnis von Kopie und Original durcheinanderbrachte. Das Spiel mit der Reproduzierbarkeit und der Einzigartigkeit des Bildes unterstreicht die Kritik der Künstlerin an der Aufwertung der Malerei in den 1980er Jahren:
Für die Arbeit Os Nadadores (Die Schwimmer) (1998) bedient sich die Künstlerin eines Zeitungsfotos, auf dem vierzehn an einem Wettkampf im Meer von Barceloneta teilnehmende Amateurschwimmer abgebildet sind. Sie separiert jeden Schwimmer als Schwarzweißkopie und aquarelliert diese stellenweise. Sie scheint also einerseits zur modernistischen Malerei zurückzukehren, bedient sich andererseits aber der Ironie, indem sie diese malerischen Effekte auf reproduzierten gerasterten Bildern anwendet. Die ausgewählten Bilder der zehn Schwimmer werden insgesamt achtzigmal wiederholt, für vier verschiedene Versionen: Bilder, Plotter, Projektion und Dias in Leuchtkästen. Dadurch, dass die Künstlerin Bilder aus den Printmedien nimmt, verändert sie deren ursprüngliche Bedeutung. Sie konstruiert Narrative, indem sie neue logische Verbindungen zwischen den Bildern knüpft, die dem Zuschauer, wenn sie assoziiert werden, neue Lesarten vermitteln.
Os Nadadores,1998. Farbfotografie und Projektion CD; 20 X 13,5 X 1,5 cm | © Arquivo da FVCB (Fundação Vera Chaves Barcellos)| Fotos: Sérgio Sakakibara
Macht Barcellos in einem Teil ihres Arbeitsprozesses das, was Dominique Baqué als “Lust zu auratisieren“ bezeichnete, weil sie jedes Bild individualisiert und mit farblichen Eingriffen einzigartig macht, wird dieser Eindruck im nächsten Moment wieder zerstört, denn dadurch, dass sie diese Bilder erneut fotografiert und reproduziert, gibt sie ihnen das Serielle zurück. Es ist eine Aura, die aufgebaut und wieder zerstört wird. Der Künstlerin geht es um das “Bild des Bildes, um das Original, das kein Original ist, sondern ein Bild, das zunehmend banal wird und die Idee des gemalten Bildes als einzigartigem Objekt ironisiert” (Interview, 2011). Dieses zweigeteilte poetische Verfahren, nämlich malerische Tupfer auf das gerasterte mechanische Bild aufzutragen, denaturiert am Ende die Eigenheit des fotografischen Mittels und bringt es in einen Spannungszustand.
In den Werken Falso Andy Warhol (Missões) (Falscher Andy Warhol – Missionen) (Dez. 1990) und Falso Andy Warhol Meret Oppenheim (Falscher Andy Warhol Meret Oppenheim) (o. D.) wird auf die Kunstgeschichte Bezug genommen. Es wird eine Verbindung zu den bunten grafischen Oberflächen und Fotografien dieses Popkünstlers hergestellt, der so viel experimentiert hat mit der Reproduzierbarkeit des Bildes und ebenfalls das Konzept des einzigartigen Bildes, der ureigenen Handschrift und der Urheberschaft hinterfragt hat.
Man kann auf den Gedanken kommen, Barcellos’ fotografische Praxis der Piktofotografie sei eine Kritik am Wert des Kunstwerks als einzigartigem Objekt, wie das gemalte Bild historisch immer definiert wurde, und sie erforsche zudem das Stigma des traditionellen Begriffs Dokument, der dem mechanischen Bild zugeschrieben wurde. Ihre Arbeiten hinterfragen bestimmte visuelle Regime des Bildhaften und des Fotografischen in Bezug auf bestimmte Traditionen.
Das Aufdecken der Singularitäten von Kunstwerken und der Vorstellungen von Schöpfung, Urheber, Original und Kopie scheint eines der Anliegen ihrer Poetik zu sein, wodurch sie „diesen poetischen, kritischen oder politischen Spielen neue Lesarten entlockt, die einladen, durch das Formen- und Zeichengedächtnis zu reisen, als eine Art Archäologie des visuellen Wissens” (Detré, 2018).
Vera Chaves Barcellos
Geboren 1938 in Porto Alegre, Rio Grande do Sul. In den 1960er Jahren als Druckgrafikerin tätig, verlegte sie sich in den 1970er Jahren auch auf die Fotografie. 1975 studierte sie mit einem Stipendium des British Council grafische Verfahren und Fotografie am Croydon College in London. 1976 war sie mit der Arbeit „Testarte“ Teilnehmerin der Biennale von Venedig. Sie war Mitglied der Gruppe „Nervo Óptico“ (1976-1978), des Kunstraums „Espaço N.O.“ (1979-1982) sowie der Galeria Obra Aberta (1999-2002). 2005 gründete sie die Stiftung Vera Chaves Barcellos für zeitgenössische Kunst. Sie beteiligte sich an vier São Paulo-Biennalen. Einzelausstellungen der jüngeren Zeit: „Imagens em Migração“ (MASP, São Paulo 2009), Per gli Ucelli (Octógono, Pinakothek des Bundesstaats São Paulo 2010), „Enigmas“ (Städtisches Kunstzentrum Hélio Oiticica 2015) und „Vera Chaves Barcellos - Fotografien, Manipulationen und Aneignungen“ (Paço Imperial 2017), beide in Rio de Janeiro.
Bibliografie
BARCELLOS, Vera Chaves. Interview mit der Künstlerin: 28.06.2018; 06.05.2011; 10.01.2003.
BARCELLOS, Vera Chaves. O Grão da Imagem. Porto Alegre: 2007.
DÉTRÉ, Natacha. Les Relecteurs d’images. Focales n° 2: Le recours à l’archive, mis à jour le 13/06/2018, https ://focales.univ-st-etienne.fr/index.php?id=2030
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