Umwelt und Zerstörung  „Was in Brasilien passiert, zeugt von einer ungeheuerlichen Blindheit”

Avicularia Tarántula Pink Toe
Avicularia Tarántula, Pink Toe © Erika Torres, 2019

Die vom Bergbau in Minas Gerais ausgelösten Tragödien sind keine Ausnahmen, sondern klare Indizien einer permanenten Gefahr, sagt der Essayist, Musiker, Kritiker und Hochschullehrer José Miguel Wisnik.

In seinem 2018 veröffentlichten Buch Maquinação do mundo (Verarbeitung der Welt) betrachtet José Miguel Wisnik das Verhältnis eines der größten brasilianischen Dichter, Carlos Drummond de Andrade (1902-1987), zum Bergbau. Im Interview spricht der Autor über diese jüngste Veröffentlichung und stellt Überlegungen zur Zerstörung der Natur durch die Umweltverbrechen in Brumadinho und Mariana an. Er sagt: „Mehr denn je muss das Denken Humboldts bekräftigt werden und alles, was dessen Offenbarung der Möglichkeiten des Menschlichen entspricht.“
 
Herr Wisnik, im 19. Jahrhundert postulierte Humboldt Ideen, die heute noch Grundlage des Umweltschutzgedankens sind. So wies er etwa auf die schädlichen Auswirkungen des Kolonialsystems auf die lokale Bevölkerung und Umwelt hin. Derzeit erleben wir eine gegenläufige Bewegung zu dem, was der Naturforscher vor etwa 200 Jahren erklärte. Wie sind wir auf diese Stufe der Barbarei gelangt?
 
Es gibt in der Modernität einen Impuls des Faustischen, versinnbildlicht in dem von dem Streben nach der Beherrschung der Welt angetriebenen Menschen. Ein Impuls, der mit der kapitalistischen Ökonomie, einer Ökonomie der Plünderung, eine nie zuvor gekannte Gier entwickelte. Nun stehen wir vor den Auswirkungen dieses zerstörerischen Impulses der grenzenlosen Ausbeutung von Naturressourcen, der in Brasilien in den Folgen des Bergbaus im Bundesland Minas Gerais seinen Ausdruck hat. In Brasilien wurde im 20. Jahrhundert das Modell eines Bergbaus etabliert, das neben dem Abbau von Erz dürftige und brüchige Stauwerke zum Auffangen des Abraums schuf, die eine permanente Bedrohung für die Bevölkerung und die umgebende Natur sind.
 
Vielen Brasilianern erschien die Katastrophe von Mariana, bei der sich im November 2015 die Bergbaubfälle der Firma Samarco über den Distrikt Bento Rodrigues und den Rio Doce entlang bis zum Meer ergossen, als ein singuläres Ereignis. Dies war die bis dahin anerkannt größte ökologische und soziale Katastrophe Brasiliens. Nun zeigt uns das Umweltverbrechen von Brumadinho im Januar 2019, ausgelöst von einem Staudammbruch derselben Firma, mit Hunderten Toten und einer gravierenden Verseuchung des Rio Paraopeba, dass es keine Ausnahme war. Das sind klare Indizien für eine permanente Gefahr.
 
Unter den Betroffenen der Verseuchung des Rio Paraopeba durch den Klärschlamm des Bergwerks sind Indigene der Ethnie Pataxó Hã-hã-hãe. Humboldt hatte eine für das 19. Jahrhundert fortschrittliche Haltung gegenüber den indigenen Völkern. Warum behandelt Brasilien seine indigene Bevölkerung so schlecht?
 
Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen in einem Moment, in dem die derzeitige Regierung Brasiliens die Existenz indigener Reservate zur Disposition stellt und es eine ganze Reihe von Kräften gibt, die alle Instrumente zum Schutz dieser Völker außer Kraft setzen will. Aus meiner Sicht handelt es sich um eine brutale und kleinliche Sichtweise, typisch für diese verheerende Modernisierung, die nicht in der Lage ist, eine Vielfalt der Lebensmöglichkeiten auf der Welt anzuerkennen. Was in Brasilien passiert, zeugt von einer ungeheuerlichen Blindheit. Mehr denn je muss das Denken Humboldts bekräftigt werden und alles, was dessen Offenbarung der Möglichkeiten des Menschlichen entspricht.
 
In Ihrem Buch „Maquinação do Mundo“ heißt es, das Werk des Dichters, Erzählers und Kolumnisten Carlos Drummond de Andrade habe „pionierhaft an einer bis heute offenen Wunde gerührt: die Zerstörung der Umwelt und des Lebens in den von einem den eigenen Konsequenzen gegenüber blinden Bergbau betroffenen Gegenden.“ Wie entstand die Idee zu dem Buch?
 
Die Idee entstand 2015, als ich zum ersten mal Itabira besuchte. In dem Buch schreibe ich, dass es in der Geburtsstadt von Drummond das Empfinden eines über die Jahre vor allen Augen begangenen Verbrechens gibt. Eines der Opfer ist der Berg Pico do Cauê, über den Drummond in seinem Gedicht Itabira von 1926 schreibt: „Jeder von uns hat ein Stück von sich auf dem Pico do Cauê“. Dieses Naturdenkmal bei Itabira  wurde seit den 1940er-Jahren von einer Bergbaugesellschaft abgetragen, der Companhia Vale do Rio Doce. Bei meinem Besuch in der Stadt lösten die Spuren der Vergangenheit und die Zeichen der Gegenwart in mir das Verlangen aus, Drummonds Werk unter dem Aspekt des Bergbaus neu zu lesen.
 
Wann wird Drummond sich über die Schäden klar, die der Bergbau in Itabira anrichtet?
 
In der Nachkriegszeit wurde die Companhia Vale do Rio Doce zum vielleicht größten Tagebauunternehmen der Welt. 1948 besucht Drummond, der damals in Rio de Janeiro wohnte, seine schwerkranke Mutter in Itabira und fliegt erstmals über die Stadt. Aus der Höhe hat er einen großartigen Blick über seine Geburtsstadt, sieht aber auch den von den Sprengungen der Companhia Vale do Rio Doce verletzten Pico do Cauê. Das war aus meiner Sicht der Moment, in dem er eine rätselhafte Eingebung über das Schicksal der Gegenwart hatte, vom Aufkommen einer durch Geoökonomie und Technowissenschaft angetriebenen Welt, deren gieriger Appetit imstande ist, unter anderem die Stadt, die er von früher kannte, zu verschlingen. Aus diesem Gefühl heraus schrieb er das Gedicht A máquina do mundo, das im darauffolgenden Jahr in einer Zeitung in Rio de Janeiro veröffentlicht wurde und eines der emblematischsten Gedichte im Werk von Drummond ist.
 
Kurz darauf, in den 1950er-Jahren, beginnt Drummond in  einer Reihe von Glossen die ungebremste Ausbeutung von Itabira durch die Companhia Vale do Rio Doce anzuprangern.
 
Dieser Zustand wird zu einem Motto für den Kolumnisten Drummond, insbesondere in den 1950er- und 1960er-Jahren. Drummond schreibt, dass die Firma, getrieben vom Drang nach Akkumulation, Itabira ausbeutet, ohne der Stadt einen entsprechenden Gegenwert anzubieten. Er sprach sich sogar dafür aus, dass die Companhia Vale do Rio Doce gemäß ihren Statuten den Firmensitz nach Itabira verlegen solle,  anstatt sich in Rio de Janeiro zu verschanzen, weit weg von dem, was sie in dem vom Bergbau betroffenen Landkreis anrichtete. Nur selten verstieg sich ein Dichter zu so einer direkten Konfrontation mit der Wirtschaftsmacht.
 
War Drummond damals ein einsamer Rufer?
 
In den 1950er-Jahren schloss er sich einer Gruppe von Einwohnern Itabiras in Don-Quijote-Manier an, die ich in meinem Buch als die „tapfere Armee von Brancaleone“ bezeichne. Diese Gruppe legte sich mit der Companhia Vale do Rio Doce an und stellte Forderungen. Die Haltung der Firma, die alles leugnete und auf die Anschuldigungen nicht reagierte, wurde von Drummond als  eine „Komödie des Schwindels“ bezeichnet. All das, was wir heute ganz offen in den Ereignissen von Mariana und Brumadinho sehen, entspricht dem, was Drummond vor gut sechs Jahrzehnten schon aufgeworfen hat. In seinem Kampf griff er auf alles zurück, was ihm zur Verfügung stand und hinterließ eine starke Botschaft, denn, wie es der Dichter Waly Salomão ausdrückt, Drummonds Werk ist der „Itabira-Gipfel, den die Bergbaumaschinerie nicht zerstört.“
 
José Miguel Wisnik ist Kritiker, Essayist, Musiker und emeritierter Professor für brasilianische Literatur der Universität von São Paulo. Er schrieb unter anderem: O coro dos contrários: a música em torno da semana de 1922 (Der Chor des Gegenteils: Musik rund um die Woche der modernen Kunst 1922; 1977), O som e o sentido: uma outra história das músicas (Klang und Sinn: eine andere Geschichte der Musiken; 1988; 2017), Veneno remédio: o futebol e o Brasil (Giftige Medizin: Fußball und Brasilien; 2008) sowie Maquinação do mundo (Verarbeitung der Welt; 2018).
 

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